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Feuilleton Literatur 28. September 2015

Literarisches Sixpack mit Mercedes Lauenstein

Nachts ist es dunkel. Nachts schläft man. Nachts erholt sich die Welt von den Menschen – und die Menschen von ihr. Gut, das klingt ganz schön romantisch und wir wissen alle, dass in unserer digitalen und globalen 24/7-Gesellschaft genug Möglichkeiten bestehen, die Nacht zum Tag zu machen. Nicht umsonst gibt es ja zahlreiche Städte, von denen man behauptet, sie würden niemals schlafen. Das klingt dann oft besonders urban und erstrebenswert. Für mich nicht. Für mich ist die Nacht ein eigener Kosmos, der neben Rückzug und Erholung auch spannende Erfahrungen sowie ungewöhnliche Begegnungen beinhaltet. Das ist vielleicht auch der Grund, warum mir das Buch „nachts“ von Mercedes Lauenstein in die Hände fiel – und ich es so schnell nicht mehr weglegen konnte.

Darin streift ein namenloses Mädchen Nacht für Nacht durch die dunkle Stadt. Brennt in einem Fenster Licht, klingelt sie und ist gespannt darauf, wer ihr aufmacht. Sie ist von der Frage getrieben: Was lässt diesen Menschen nicht schlafen? Wer ist er? Und vor allem: Wird er mich reinlassen? Was wird passieren?

Mich hat die Geschichte vom Mädchen, das nach etwas sucht, aber nicht so recht weiß wonach, spontan an die berühmte Anekdote vom griechischen Philosophen Diogenes erinnert. Der Kyniker war am hellichten Tag und mit Laterne auf der Athener Agora, also dem belebten City Center der antiken Stadt, unterwegs. Dabei verstörte er seine Umwelt nicht schlecht, als er immer wieder laut nach einem „Wirklichen Menschen“ rief. Diesen konnte er aber leider nicht finden. Auch das Mädchen könnte meiner Meinung nach so einen wirklichen Menschen suchen. Tagsüber scheinen ihr diese verborgen zu bleiben. Vielleicht denkt sie, kann sie sie hinter den letzten erleuchteten Fenstern finden?

Natürlich wollten wir im Vorfeld dieses Literarischen Sixpacks von Mercedes wissen, wieviel die Autorin mit dem Mädchen gemeinsam hat: „Die Grundthemen des Buches sind schon auch meine Grundthemen, klar: Einsamkeit, Nacht, Grübeleien über Leben und Zeit und Sinn. Die Protagonistin aber bin natürlich nicht 100% ich. Nicht in dem Sinne jedenfalls, in dem ich im Alltag ich bin. Sie ist ja auch jünger als ich und hat eine ganz andere Familiengeschichte, einen ganz anderen Alltag. Ich stecke also eher im Gesamtwerk. In den Sätzen der einzelnen Figuren und so. Aber auch das ist ja alles nicht eins zu eins zu begreifen.“

Wir sind ganz besonders stolz, Mercedes für dieses Literarisches Sixpack gewonnen zu haben. Lasst euch inspirieren!

nachts © Aufbau Verlag 2015
Buchcover von „nachts“ © Aufbau Verlag 2015

1. Nicolas Bouvier – Die Erfahrung der Welt

Im Jahr 1953 fährt der Schriftsteller Nicolas Bouvier mit seinem Malerfreund Thierry Vernet in einem alten Fiat von Genf aus Richtung Afghanistan. Und führt Tagebuch. So zeitlos und klar, dass man als Leser sofort mit ihm unterwegs ist und nie mehr nach Hause will. Egal, auf welcher Seite man das Buch aufschlägt: Immer sieht, spürt, hört, schmeckt und sehnt man, was er grad sieht, spürt, hört, schmeckt und sehnt. Ich kann nicht genug kriegen von Bouviers Sprache. Einige Stellen des Buchs habe ich schon mindestens 8765 Mal gelesen und werde es immer wieder tun, bis die Seiten eines Tages zu Staub zerfallen.

2. Wolfgang Herrndorf – Bilder deiner großen Liebe

Meine Liebe zu Herrndorf begann mit der Entdeckung seines Blogs im Jahr 2011. Hatte vorher nie was von ihm gelesen, nie was von ihm gehört. Dann Tschick gelesen, dann Van-Allen-Gürtel, dann Plüschgewitter. Sand war mir immer zu kompliziert, bin nie über die ersten 40 Seiten hinaus gekommen. Als das Isa-Buch kam, hab ich fast Angst bekommen, so sehr hat mich das berührt. Der hat meine Seele aufgeschrieben, hab ich gedacht. Lese ich ebenfalls dauernd drin, auch nach dem Bouvier-Prinzip: Irgendwo aufschlagen und los. Steile These, aber vielleicht ist das ein Erkennungszeichen wirklich guter Bücher: Wenns egal ist, an welcher Stelle man anfängt zu lesen.

3. Bertold Brecht – Baal

Als ich 15 war, lief nachmittags eine Verfilmung von Baal auf arte. Ich war grad am Geschirrspülen, als ich im Hintergrund aus dem Fernseher Matthias Schweighöfer (ja, sowas hat der früher noch gemacht, bevor er zu Til Schweiger No. 2 mutierte) in der Rolle als Baal diese ganzen Baal-Sätze sagen hörte. Dazu lief irgendeine magische Musik und wie hypnotisiert ging ich zum Fernseher und glotzte den ganzen Film zuende und war völlig verliebt in jeden Satz, der gesprochen wurde. Mein Vater schenkte mir zum darauffolgenden Geburtstag das Buch und mittlerweile ist es schon ganz abgegriffen. Neulich zeigte mir ein Freund auf YouTube die Eröffnungssequenz der Baal-Verfilmung mit Rainer Werner Fassbender. Kannte ich vorher nicht. Und wieder war ich komplett ergriffen von diesem Baal-Sound. Was ja erstaunlich ist, denn meistens findet man das, was man mit 15 gut fand, mit 27 eher peinlich.

4. Botho Strauss – Paare, Passanten

Strauss Texte kenne ich noch nicht lange, mittlerweile besitze ich aber schon vier Bücher von ihm, plus die von Heinz Strunk herausgegebene Textstellen-Sammlung „Der zurück in sein Haus gestopfte Jäger“. Was an Strauss so besonders ist, hat Strunk hier aufgeschrieben und ich weiß kaum, was ich dem hinzufügen sollte. „Paare, Passanten“ war das erste Buch, das ich von Strauss besaß und ist bis jetzt dasjenige von ihm, in dem ich am liebsten rumlese.

5. Yasmina Reza – Glücklich die Glücklichen

Reza habe ich durch ihr Theaterstück „Kunst“ kennengelernt. Dann sah ich „Der Gott des Gemetzels“ und mochte es, dann las ich den Geschichtenband „Glücklich die Glücklichen“. Ich weiß noch, dass ich lang zögerte es zu kaufen, weil das Grundthema so cheesy klang. So nach klischeefranzösischen Pärchenkrisen, Affärenwitzchen und sonstigen Midlifehumorpeinlichkeiten. Steckt auch von allem was drin. Aber erstens ist die Verknüpfung der einzelnen Geschichten so schlau gemacht (dass es da überhaupt eine Verknüpfung gibt, checkt man erst nach und nach) und außerdem gleitet Reza nie in diese Klischeekelhaftigkeit ab, die man dauernd befürchtet. Im Gegenteil. Ihre Figuren sind so echt und fühlbar, so Reza-haft eben: voll sonderbarer Widersprüche und perverser Fantasien. Ich verehre diese Reza-Magie, die immer etwas böse und rotzig ist, zugleich aber so zart, weise und poetisch.

6. George Perec – Das Leben, Gebrauchsanweisung

Ich mag fast alles von Perec, weil ich seine grundsätzlich neugierige, experimentierfreudige Herangehensweise ans Schreiben verehre. Außerdem mag ich seinen Alltagsfetisch. Er denkt in seinen Texten ausführlich über Gegenstände nach und Atmosphären und man spürt in jedem seiner Sätze, wie er immer noch tiefer rein will in das, was ihn da grad interessiert. Sein Monumentalroman „Das Leben, Gebrauchsanweisung“ erzählt puzzlehaft die Geschichte eines Pariser Mietshauses mit 99 Zimmern: Von der Architektur des Hauses über die fein aufgedröselten Lebensläufen seiner Bewohner bis zur spezifischen Atmosphäre eines Treppenhauses. Alles greift penibel ineinander. Eine fast schon wahnwitzige Durchleuchtung des Lebens.

 

Mercedes Lauenstein arbeitet in der jetzt-Redaktion der Süddeutschen Zeitung und schreibt als freie Autorin Essays und Reportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. »Nachts« ist ihr erstes Buch.

Das Buch gibt es auch als E-Book auf www.aufbau-verlag.de

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