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Feuilleton Kunst Musik 13. Juli 2022

Das Festival der Kontraste: Sechs Tage auf dem Roskilde Festival

Endlich ein Sommer wie er früher einmal war. Also früher im Sinne von 2019. Die Zeit wenn hier in Kopenhagen die mit Kindern gefüllten Lastenräder und Autos aus der Innenstadt verschwinden, Deutsche in die Sommerhäuser ziehen und auf Wiesen Zeltstädte und Bühnen aufgebaut werden. Dann ist Festivalsaison, an der im Vor-Corona-Jahr immerhin 920.000 Dänen teilnahmen. Also etwa ein Fünftel aller Dänen.

130.000 entfallen davon jährlich auf das Roskilde Festival, wovon rund 30.000 Freiwillige Helfer sind, die entscheidend zum Non-Profit Status des Festivals beitragen und zu den durchschnittlich 2,5 Millionen Euro Überschuss die gespendet werden. Viele Festivals sind seit 2020 ausverkauft, auch das Roskilde. Das ist gut und zeigt nicht zuletzt den Stellenwert der Institution Festival.

Es ist aber auch eine große Herausforderung, da alles in den vergangenen zwei Jahren teurer geworden ist. Ticketpreise auch. Ärgerlich, wenn man seinen Überschuss spenden will, und natürlich auch wenn man Kosten decken muss. Wie sieht Festival und Roskilde aus trotz Corona? Wie wirken sich zwei Jahre Pause auf Publikum und auf einen selber aus?

© Kim Matthäi Leland / Roskilde Festival

In den Camps wird erstmal Party neben der Soundbox gemacht und so sind wir auf dem bunten 2000qm großen bunten Dancefloor der Künstlerin Katharina Grosse, auf dem an diesem Tag eine Reihe ukrainischer DJs spielt. Dafür ist das kleine Talk-Zelt gut gefüllt, wo Bedside Productions (Pornos, Magazine, Partys, Aufklärung) diskutieren, Sex, Grenzen und Einverständnis. Das Thema Vergewaltigung und Nötigung auf Festivals und dem Roskilde war zuvor in dem Medien debattiert worden.

Freiraum ist nötig, doch wie kann er bewahrt werden und wie erzieht man die Festivalgäste der Zukunft, damit sie lernen das Freiraum nicht regellos bedeutet. Ungewiss, ob das bei der Zielgruppe ankommt, die für ungehemmten Spaß und „Perfect Week“ hier eingezogen sind. Wir, die hier sitzen, wirken jedenfalls recht einig. Trotzdem, das große und ambitionierte Kunst-, Workshop- und Performance-Programm unter dem Motto Solidarität umfasst viel Sex, Gender und Feminismus und ist in diesem Ausmaß wohl einzigartig in der Festivallandschaft. Selbst wenn man nicht die Muse hat, dort tiefer einzutauchen, die riesige aufblasbare Plazenta auf dem Festivalgelände lässt Nachdenken, ebenso wie das große Graffiti der Schwedin Carolina Falkholt, die darin ihre Gruppenvergewaltigung in einem Zelt auf diesem Festival beschreibt.

Ein Werk, das vor, während und danach für Diskussion sorgte. Jüngere Gäste lasen den Text, ältere posierten fröhlich vor dem Hintergrund des Textes, eine Vulva. Eine Art Clash, der sich durchzieht. Jüngere feiern Body Positivity mit Megan Thee Stallion, ältere beschweren sich über fehlende Headliner á la Paul, Neil und Mick. Und wir dazwischen? Sollen wir uns schon alt fühlen und auf die Jugend schimpfen oder einfach anerkennen, dass Trends und Geschmäcker sich verändern und Musik schon immer Rebellion war und Tyler, The Creator der moderne Kurt Cobain?

Bemerkenswert, dass all diese Dinge auf dem gleichen Gelände stattfinden: Beer Pong-Wettkämpfe, Post Malone, feministische Kunst, Klimaworkshops und Burger aus Insekten. Es geht auf, wenn die Beer Pong-Post Malone Gruppe mit dem Gegenteil konfrontiert wird und andersherum und was mitnehmen kann. Gleichzeitig subtil und effektvoll gelingt das bei This Variation von Tino Sehgal und Kunlé Adeyemi. Aus gleißendem Sonnenschein, wogender Masse, mit Drink und Hot Dog in der Hand tasten wir uns in einen dunklen Raum, in dem geschnalzt und gesummt wurde, begleitet von Beatbox und Vokalgesang. Ungewohnt, unheimlich, stark. Fast noch besser war es vor dem Raum zu sitzen und zu beobachten wie andere Gäste eher zufällig dort reinliefen und immer irgendwie berührt dort herauskamen. So muss Festivalkunst sein.

© Camilla Zuleger

Mancher mag vielleicht meinen, dass 130.000 viel zu viele Menschen sind, und klein, indie und familiär immer besser ist. Meistens ja, doch Masse kann, wenn gut organisiert auch was. Vor allem Gemeinschaftsgefühl, ob bei Headlinern oder unbekannten, neuen Künstler*innen aus chartuntauglichen Genres, die beim Roskilde elementar sind. Bei anderen Festivals wäre es leer, doch hier gibt es immer mindestens 500-3000 Gäste deren Geschmack ebenso anders ist wie das Programm und eine magische Stimmung schaffen, wie bei Arooj Aftab, die mit ihrer Mischung aus pakistanischem Qawwali und Sufi mit Jazz und Neo-Klassik und ihrem Charme verzauberte.

Ebenso Yasmin Williams. Wo sonst stehen 800 Leute und hören sich eine instrumental Gitarristin an und feiern jeden Song? Oder bei Moor Mother und ihrer Band Irreversible Entanglements: politischer Spoken Word & Jazz, der aufrüttelt und Mut gibt. Diese Konzerte muss man wollen.

Allgemein war es ein Musikprogramm der Frauen (so macht man das, liebes Rock am Ring). Auf großen und kleinen Bühnen, gab es von Publikum und Presse gefeierte Shows mit u.a. St. Vincent, Phoebe Bridgers, Kelly Lee Owens, Megan Thee Stallion oder Dua Lipa. Dua Lipa spielte an einem dieser exemplarischen kontrastreichen Abende: Während auf der Orange Stage Pop Hits rausgefeuert wurden, untermalten N.E. Girl, Peachlyfe und Sugar auf der Containerbühne Apollo den Sonnenuntergang mit Bass und 160BPM, während um die Ecke die Griechen Evritiki Zygia Volksmusik aus Thrakien spielten, auf Sackpfeifen, Tröten und sonst was.

Für jeden soll was dabei sein und das ist es auch. Es ist ein Festival, das an seinem 50. Geburtstag (!) nicht zurückblickt, sondern noch vorne schaut. Das Roskilde Festival sah sich nie als Rock Festival, sondern als ein Event für die Jugend. Diese hat sich entschieden und Männer mit Gitarren abgewählt und dafür Rapper*innen und Hyperpop-Stars auf die Bühne geholt und kann sich, zumindest teilweise, gleichzeitig auch den wichtigen Themen der Gegenwart widmen.

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