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Feuilleton Musik 27. Juli 2022

Plattenteller des Monats #Juli 2022

Immerhin muss man keine Masken tragen bei 40 Grad. Oder was sind die positiven Gedanken, wenn man den digitalen Blick über Europa schweifen lässt, wie Saurons Auge über das brennende Mittelerde. Bleibt nicht so viel übrig, wo wir uns doch eigentlich über den Sommer freuen sollten, ob Urlaub oder nicht, ob im Süden oder im Norden.

Einfacher wird das Dasein nicht. Krise kommt, Krise bleibt. Immerhin fahren viele mit der Bahn, wenn sie fährt. Ist doch schon mal ein Anfang, und kaltes Duschen als Lösung wirkt aktuell auch nicht wie die größte Strafe.

Gewinne, Gewinne wie man man in der FDP sagt, und dann postet wieder jemand das Meme mit dem Hund im brennenden Haus und Forscher sagen, wir sehen gerade einen Ausblick in die Zukunft. Deprimiert schalten wir kurz um auf den eigenen Bauchnabel: Luxus ist aktuell, nicht im Juli Urlaub machen zu müssen, sondern eine ruhige Stadt zu genießen und im Mail-Eingang nur Out-of-Office-Replies zu haben. Eine Form von Urlaub waren natürlich die fünf Tage Roskilde Festival, die nach drei Jahren wieder abgefeiert wurden.

Immer noch schön, bunt und wild. Und alle waren schnell im Festivalmodus: Die Alten fragen sich, was das mit dem ganzen Hip-Hop und Pop auf dem Line-up soll, die Booker sagen, das wollen die jungen Menschen so. Wo man selbst zugehört, ist dann ein Thema für den Herbst und nach weiteren Feldstudien auf dem Dekmantel Festival. Spannende Bands und Künstler*innen gab es allemal zu entdecken, während Post Malone auf der Bühne ein Bier exte und Julian Casablancas – laut eigener Aussage – „Career Suicide“ betrieb (Spoiler: er hatte leider recht). Welche davon so gut waren, das man am Merchstand nicht einfach so vorbeigehen konnte, lest im neuen Plattenteller des Monats Juli.

Yasmin Williams – Urban Driftwood

Eine der größten Offenbarungen meines Roskilde Festivals war das Konzert mit Yasmin Williams. Auf der kleinsten Bühne, ein umfunktionierter dunkler Stall, im harten Kontrast zur Sonne und Stimmung draußen davor. Hier ließ sie einen einzigartigen, unerwarteten und komplexen Sound, ganz alleine und auf außergewöhnliche Art aus ihrer Gitarre fließen. Diese liegt auf ihren Beinen und sie spielt ein elegantes Fingerpicking.

Rein instrumentale Lieder mit leichten Harmonien, lässt sie so entstehen, begleitet vom Rhythmus, ihrer auf die Gitarre klopfenden Finger. Man sollte sich ihr Tiny Desk Konzert anschauen, die Musik in Kombination mit ihrer charmant-lässigen Attitude ist extrem überzeugend. Urban Driftwood ist ihr letztes Album und bietet genau die Musik, die die klassische Szene begleitet, wo ein Vorhang sachte im lauen Sommerwind am offenen Fenster weht, während die Sonnenstrahlen im Gesicht kitzeln.

Arooj Aftab – Vulture Prince

In Lahore, Pakistan geboren und in NYC zur Musikerin geworden. Arooj Aftab, ist die zweite Entdeckung. Ebenfalls auf dieser kleinen Bühne, wo man sofort das Gefühl hat, dazu zu gehören, und oft passieren genau hier, abseits der großen Künstler und Produktionen die magischen Augenblicke.

Arooj Aftab verbindet Sufi, Jazz und Ambient und Folk, sing größtenteils auf ihrer Muttersprache Urdu und versprüht die Lässigkeit eines echten New York Citizen. Es ist kein easy listening, dazu sind die Stücke zu gefühl- und geheimnisvoll, haben eine gewisse schöne Schwermütigkeit in sich. Begleitet von Kontrabass und Harfe und den verschiedenen Inspirationen spinnt Arooj Aftab ihre wundervollen Songs, die natürlich auch auf ihrem letzten Album Vulture Prince ausreichend vorhanden sind – inklusive einem englischsprachigem vom Reggae angehauchten Stück, das nur die Vielseitigkeit dieser außergewöhnlichen Musikerin unterstreicht.

Horsegirl – Versions of Modern Performance

Den Titel dieses Album hatten The Strokes und deren Frontmann etwas zu ernst genommen und man fragte sich tatsächlich: Obwohl mein Ranzen noch nicht über die Hose hängt, bin ich schon einer der alten Männer, die meckern, dass der Rock tot ist? Nein, der Rock ist nicht tot, auch der Roll und der Indie nicht. Sie tragen nur nicht mehr so enge Hosen oder lange Bärte.

Diese drei Frauen aus Chicago tragen den Rock (nicht das Kleidungsstück) am recht Fleck, und Freitagnacht standen auch sie auf einer kleinen Bühne in Roskilde. Die ehemalige Sonic Youth Coverband hört man ihnen glücklicherweise an – aber da war die Musik ja auch noch am Leben. Doppelstimmiger Gesang, dreamy, noisy, etwas wütend, Tempowechsel. Also alles vorhanden für eine runde Körper kreisen lassen als wäre es das Jahr 2005.

Jens Lekman – The Linden Trees Are Still in Blossom

Jemand der leider nicht beim Roskilde Festival war ist Jens Lekman. Hatte aber immer schon einen Stein im Herzen bei mir und ist einfach ein Darling. The Linden Trees ist ein neues altes Album, eine Aufnahme von einem Highlight aus 2007, Night Falls Over Kortedala. Damals auf CD gekauft und wäre es eine Platte gewesen, hätte die definitiv keine Mint Condition mehr.

Kringeliger Pop mit Strand Vibes und schwedischer Schwermütigkeit. Lyrics zwischen Tagebuch und kruden Kurzgeschichten. Problem: Das Album bestand neben ihm und seiner Gitarre aus vielen Samples. Und mit denen gab es nun Probleme und alles musste aus dem Internet gelöscht werden und wird nicht mehr verkauft. Jens Lekman wäre aber nicht Jens Lekman würde er nicht einfach eine Band versammeln und das ganze neu einspielen und einige der alten Tagebucheinträge aus heutiger Sicht weiterführen. Früher war vielleicht etwas besser, aber dafür ist das jetzt eine schöne durchsichtige Vinyl und man kann zusammen mit ihm älter werden.

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