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Feuilleton Musik 30. Mai 2022

Plattenteller des Monats #Mai 2022

Hat sich die Welt doch tatsächlich weitergedreht. Oder haben wir uns nur wirklich wenig bewegt? Viel ist gesagt und geschrieben worden, gemeint und gefühlt, nicht zuletzt hier, und plötzlich muss man wieder mal bereit sein für eine Welt, die sich grundlegend verändert hat.

Kurz dachten wir, der Kosmos außerhalb des eigenen Zuhauses, würde einen so begrüßen wie Anfang 2020. Doch wurde diese Hoffnung, zusammen mit viel zu vielen unschuldigen Opfern, begraben. Trotzdem sind wir jetzt am Ende des Frühlings, den Sommer kann man schon riechen. Wenn man am richtig Ort wohnt auch schon fühlen. Darf man sich trotzdem darauf freuen, dass sich die Kulturszene erstmal und anscheinend so von Corona und Lockdown erholt hat, dass auch die Saison für Konzerte, Festivals und Leben wieder möglich ist und stattfindet?

Kurze Antwort: Ja. Eine längere Antwort hat Paula Irmschler neulich in ihrer Musikexpress-Kolumne geschrieben: Die meisten Gehirne haben Raum für mehrere Sachen und alleine trinken ist jetzt auch keine Lösung. Genügend Leute haben die vergangene Zeit (fast) alleine wenn nicht gar einsam verbracht, und nicht zu wenige haben davon Schäden bekommen und / oder kommen oder kamen auf blöde Gedanken. Nein, was wir jetzt tun sollten ist zusammen sein, so viel und so eng wie möglich, mit so lauter und guter Musik wie verträglich und darüber hinaus schöner und anregender Kunst.

Aber trauen wir dem Ganzen, schmeißen wir uns kopfüber hinein oder spukt da etwas? Kommen die neuen goldenen 20er doch noch oder eher eine fette Wirtschaftskrise gemischt mit psychischen Spätfolgen … folgen … folgen.

Ich will optimistisch sein, vor allem für all diejenigen die für die Volksgesundheit zuschlossen, absagten und verschoben. Die ersten Konzerte und Partys haben sich gut angefühlt, auch ungewohnt, aber vor allem gut. Ebenso wie die neuen Platten, die in den vergangenen Monaten erschienen sind und zwangsläufig alle auf ihre Weise die vergangenen zwei Jahre behandeln ohne sie zu thematisieren.

Tocotronic – Nie Wieder Krieg (Vertigo Records)

Natürlich wird ein neues Tocotronic Album gut (hofft man vorher). Und wenn nicht? Ist ja noch nicht vorgekommen. Eine gute Handvoll Singles gab es schon die vergangenen Monate zum auswendig lernen. Die neue Platte klingt etwas nach Werkschau, es gibt die garagenrockigen, die ausufernden, die poetischen, die stillen und stürmischen Songs: sozusagen ein „Best Of“ im neuen glitzernden und weder modernen noch unmodernen Gewand. Zeitlos flüstert der Popkulturgeist. Also wo landen wir? Beste deutsche Band mit neuer Top-Platte.

Big Thief – Dragon New Warm Mountain I Believe in You (4AD)

Kann man schon fast ähnlich beginnen: Natürlich wird ein neues Big Thief Album richtig gut. Haben die amerikanischen Süßis doch in den letzten Jahren einen ordentlichen Output gehabt, der von Kritikern, Hipster und dem Rest nur mit Höchstwertungen und Herzemojis bedacht wurde, und sie gleichzeitig zu einer Art „mellow“ Arcade Fire gemacht hat als die noch Indie waren. Sängerin Adrian Lenkers Soloalbum ist auch schon herzerwärmend toll, das von Gitarrist Buck Meek auch ziemlich okay. Und jetzt diese Platte. Eine Art „Show-Off“ der Big Thief Qualitäten, rumpeliger und schöner Folk, klassischer Americana, poetisch und herzlich und dazu diese genialen Melodien die mindestens die Hälfte der Songs zu Instant hits macht. Die Platte kommt natürlich auf eco-friendly recyceltem Vinyl, bunt und schwarz.

Trentemøller – Memoria (In My Room)

Anders Trentemøller mag für viele immer noch nach klarem hymnenhaften Minimaltechno klingen, doch hat er sich schon länger der postrockenden, shoegazenden Gitarrenmusik verschrieben. Schwarz war schon immer seine Lieblingsfarbe, jetzt kommt aber tatsächlich auch etwas „beach-housiger“ Dream Pop dazu, die Elektronik flackert umher, doch der Grundton bleibt düster. Es treibt vorwärts, schwebt bedrohlich und Lisbet Fritze perfektioniert mit ihrer Stimme. Eingespielt hat er alles selber. Das hier ist weiterhin Musik für die Autobahn oder die große dunkle Konzerthalle auf extra-laut. Doch funktioniert wohl auch für diese Monate, wo man auch mal bei Regen aus dem Fenster guckt und sich fragt, was da die vergangenen zwei Jahre eigentlich los war und auch gerade jetzt los ist?

Mystic Jungle – Deviant Disco (Periodica Records) 

Dario di Pace ist Mystic Jungle, und man muss nicht lange zuhören, um herauszufinden, dass hier ein Italiener Italo Disco macht. Das er einer jungen dynamischen Szene aus Napoli angehört, hören wohl nur Kenner, aber ist so. Die fünf längeren Tracks sind teilweise klassisch, die Hüfte bewegend und die Gedanken an Sonne und Aperitivo sprießen lassend, teilweise etwas gebremster und spaciger, und mit lässigen Jazz und Welteinflüssen. Modern Disco sagt das Label. Jedenfalls gibt es hier Funk und Boogie für jedermann und gute Laune obendrauf. Also auf den Teller damit und ab in den Süden.

Das Hobos – Random Home (Schmoni Music)

Manche Musik passt einfach besser zu bestimmten Gelegenheiten als andere. Und zum Zugfahren passt das Augsburger Trio Das Hobos, eine Band für Kenner. Fiel mir neulich wieder auf, als ich in ebenjenem Zug ihre neuen Singles slip & slide / 5 a.m. ausprobierte. Beide haben diese countryeske Stimmung eines weiten offenen Landes: Du hast alle Zeit der Welt und das Leben ist schön. Nicht alles ist perfekt, aber es ruckelt sich schon zu recht. Wie der Rhythmus auf „Das Hobos“-Platten generell. Hier wird nicht alles ausproduziert bis es kristallig funkelt, sondern lieber kleine Details, Melodien und Sounds zusammengesetzt bis am Ende die Sonne aufgeht. Vinyl ist bei den Jungs immer schnell ausverkauft, also streamt das letzte Album Random Home. Und wenn sich die echten Zuggeräusche dann mit den Fieldrecordings vermischen, werdet ihr es schon spüren. Die neue Single kam übrigens schon als 7-inch-Single raus.

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