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Feuilleton Musik 1. Juni 2020

Plattenteller des Monats #Juni 2020

Können wir die Winterjacken jetzt auf den Dachboden bringen? Wir haben jedenfalls keine Lust mehr sie zu tragen. Die Birkenstocks sind aufpoliert, Fußnägel ebenfalls. Die guten Spots in der Umgebung haben wir in den letzten Monaten erkundet und der Reise-Plattenspieler ist aufgeladen. Und so gerne wir auf Konzerte gehen, diese Drive-In Sachen haben uns irgendwie noch nicht so richtig hinter dem Laptop hervorgeholt.

Was uns hingegen schon länger bewegt, wenn der Plattenspieler mal Pause macht, ist Radio. Für manche ein zu vernachlässigendes Medium, das nur in Verbindung mit dem besten der 80er und 90er Jahre und im Auto vorstellbar ist. Im besten Fall aber eine großartige Playlist, von Profis zusammengestellt, nicht von Algorithmen. Außerdem öffnet sich ein Fenster in die Musikszenen anderer Länder, die wir erstmal nicht erleben können. Gute, unabhängige Sender gibt es fast überall.

Auch öffentlich-rechtlicher Rundfunk kann bisweilen was, jedenfalls hier in Dänemark (auf P6-Beat oder P8-Jazz), aber erst Recht bei unserem Favoriten, der BBC in England. Wir hängen meistens bei Radio 6 rum und hören Mittags die legendäre Mary Ann Hobbs, oder Gilles Peterson, einen eklektischeren, umtriebigeren Radiomoderator (mit Jazzvorliebe) gibt es wohl nicht, auch täglich auf seinem empfehlenswerten Sender, Worldwidefm (oder seinem Label Brownswood) zu finden. Natürlich sind alle Programme auch als Podcast verfügbar. Auch Iggy Pop himself. Er und seine unverwechselbare Stimme haben eine eigene Show bei BBC Radio 6.

Jetzt aber zu den Platten für diesen Monat, die zum Großteil dasselbe ausmacht wie gutes Radio, sorgfältig ausgewählte Songs und die Liebe zur Musik.

LateNightTales: Floating Points

Neulich als Bandcamp wieder einen Tag hatte, an dem der ganze Gewinn an die Künstler ging, hatte das Late Night Tales Label seine seit Jahren prägenden Compilations im Angebot. Wer kann da widerstehen, und so kam neulich die auf 1000 Stück limitierte weiße Vinyl Ausgabe vom Floating Points Mix mit der Post (mittlerweile ausverkauft). Der DJ und Producer Floating Points ist bekannt für seine Vorliebe für Nischen und alte, vergessene Musik aus allen Ländern, und natürlich für seine eigenen Produktionen, die bis zum letzten Album, mehr oder weniger deutlich Dancefloor orientiert waren. Die für Late Night Tales ausgewählten und zum Teil exklusiven Tracks bewegen sich zwischen Jazz, Folk, Neoklassik und Ambient, eher experimentell als klassisch. Funktioniert aber hervorragend Sonntagmorgens zum Frühstück, oder Sonntagmorgens zum runterkommen – je nach Typ.

Velvet Desert Music Vol. 2 (Kompakt)

Beim weiterstöbern auf Bandcamp entdeckt: Diese relativ neue Reihe vom all time favorite Kompakt, zusammengestellt aus dem hausinternen Fundus, von Mitgründer und Produzent Jörg Burger. Nach den ersten Tracks hätte man wohl nicht unbedingt auf die Kompakt-Familie getippt. Auf dem Waschzettel wird cinèma pour l’oreille (Kino für’s Ohr) erwähnt. Und das trifft es ziemlich gut, denn es lässt sich zu den entspannten Downtempo-Tracks angenehm wegträumen, in die titelgebende Wüste mit Cowboyromantik. Und es grüßen alte Haudegen wie Sascha Funke, Rebolledo und Superpitcher. Smoothes Hüftwippen kommt aber auch gut, und lenkt die (Wunsch-)Gedanken hin zu einer neulich aufgekommenen Frage, ob dieses Jahr eigentlich illegale Open-Air-Raves ein Comeback haben? Falls sie je weg waren – für den Autor dieser Zeilen waren sie. Nicht, dass wir illegales und enges Beisammensein unterstützen würden, aber…

Acid Pauli – Get Lost V mixed by Acid Pauli (Crosstown Rebels)

Apropos illegale Raves: Wir waren da, wie gesagt, auch mal stärker involviert, also in Raves allgemein. Vor und und hinter den Plattentellern. Aber kein Grund für Nostalgie, nur vielleicht etwas gesunde Wehmut entwickeln (eine Diskussion aus dem Buchhit Allegro Pastell von Leif Randt), nach dem Sound dieser Zeit. Lest Sound als Metapher für Gefühl, Atmosphäre und Klang, auf dem Dancefloor, unter blauem oder schwarzen Himmel. Acid Pauli hatte schon immer einen besonderen Sound, und wenn es die Möglichkeit nach Teilnahme an diesem gab bzw. gibt, sollte sie genutzt werden. Vor einer digitalen Ewigkeit, also vor 8 Jahren, erschien der fünfte Teil der Serie „Get Lost“, gemischt vom allerfeinsten Atzen Paule. Mag heute vielleicht leicht poppig erscheinen, doch wir schämen uns nicht und freuen uns über das Repress auf 3x weißem Vinyl. Vielleicht tanzen wir auch barfuß auf dem Balkon.

The 1975 – Notes On A Conditional Form (Polydor)

And now for something completly different: Seitdem dieser Drake die Musikwelt neu erfindet, kann ein Album auch eine Playlist sein. Sprung zu The 1975, von denen wir neulich noch dachten, das wäre so One Direction-mäßig, als alle Opinionleader plötzlich anfingen das zu liken. Müssen wir natürlich mitziehen. Jedenfalls, deren neues Album könnte auch eine Playlist sein, mit einem Hintergedanken der zu einem mega Chaos hätte führen können, aber als Machtdemonstration endet. Die Jungs können alles, machen alles und boom. Erst spricht Greta, dann schreit Sänger Matt Healy, plötzlich pumpen Fäuste im Housebeat um danach am Lagerfeuer zu sitzen und das Formatradio anzumachen. Keine Ahnung was da los ist, die Fachpresse ist zerrissen, wir bleiben dran – und überlegen welche der farbigen Ausgabe wir haben wollen.

Shabaka and the Ancestors – We Are Sent Here by History (Impulse)

Genug Mixkram, zurück zum Jazz. Wir haben Shabaka Hutchings schon vorgestellt, und wir können damit locker weitermachen. Dem Mann können Sie nämlich vertrauen, er weiß was er tut, er tut es oft und ist zurecht einer der größten Stars der neuen Jazzszene Londons. Für dieses Projekt, lässt er diese aber daheim auf der Insel und kehrt zu seinen Ancestors nach Südafrika zurück, im übertragenen und wörtlichem Sinne. Es ist das zweite Album in dieser Konstellation, zu der auch der Sänger und Künstler Siyabonga Mthembu gehört, der mit seinen Lyrics auf Zulu, Xhosa und English einen Fixpunkt neben King Shabakas Tenorsaxofon bietet, das hier nicht so im Vordergrund steht wie üblich. Es verbindet, und führt die anderen Instrumente – und den Jazz, zurück zu seinen Ursprüngen, schafft dabei etwas neues und unbegreiflich mitreißendes. Die Hingabe dieser Musiker ist spürbar, und verdeutlicht wie Musik Emotionen wecken und auch zwischen den Noten zu einem sprechen kann.

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