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Feuilleton Musik 6. Juli 2020

Plattenteller des Monats #Juli 2020

Sommer 2020, wer hätte das gedacht: Man hat sich an eine Ausnahmesituation gewöhnt, man hat gemerkt, der Mensch ist schon eine besondere Institution – und die Welt erst recht.

Normalerweise hätten wir vor wenigen Tagen unser Zelt auf dem Roskilde Festival aufgebaut und hätten neue skandinavische Bands gesehen, wie Athletic Progression, Kaaliyah oder Erika de Casier, um nur drei von vielen weiteren zu nennen. Vielleicht wären wir auch bei einem Talk über feministische Poesie oder einem Bastel-Workshop in einem kleinen Zelt hängengeblieben, und bestimmt hätten wir das erste Bier dieser immer wieder außergewöhnlichen Festivalwoche getrunken.

Wir hätten diese Warm-up Tage genutzt, wie die ersten Tage des Urlaubs, um das Büro, den Job oder was auch immer, abzuschütteln. Platz machen für Musik und Kunst, Erlebnisse und Emotionen. Das Aufwärmen ist genauso ein Abkühlen. FOMO? Nein, was nicht stattfindet, kann nicht verpasst werden. Wehmut? Wohl schon. Ein Freiraum der Gedanken und Erlebnisse – #Hedonismus. So dehnbar oder eingeschränkt, wie es für die gegenwärtige, persönliche Situation passend erscheint.

In der jetzigen Situation erschien es passend, ein paar Tage aufs Land zu fahren, um Mutti zu helfen das Wochenendhaus zu streichen. Meditativ, anstrengend, nützlich. Und vor allem gut, um nebenher Sachen zu hören. Keine Musik, sondern Podcasts. Nicht diese, wo zwei Männer oder Frauen über dies und das reden, sondern solche, in denen Journalisten und Redaktionen auf eine Story gestoßen sind, sie verfolgen und einen fesselnden Bericht abliefern, so wie (noch) in Zeitungen, Magazinen als auch Dokumentationen. Und Hand aufs Herz, und obwohl das hier Plattenteller heißt, der amerikanische Podcast „Wind of Change“, ist eines der Kulturprodukte des Jahres, und definitiv Kunst, wenn Kunst von Können kommt. Nur kurz: Patrick Radden Keefe untersucht das Gerücht, das der Scorpions Megahit „Wind of Change“, von der CIA komponiert worden und dafür benutzt worden sei, die Sowjetunion zu infiltrieren und Einfluss auf den Ausgang des Kalten Kriegs zu nehmen. Ge-ni-al. Gänsehaut, Lachen, Staunen, Klaus Meine, alles dabei.

Aber jetzt dann zu der Musik, die es verdient hat, gehört zu werden, und dieses Mal nicht nur „vinyl only“.

Kassa Overall – Shades of Flu: Healthy Remixes For an Ill Moment (Self released)

Letzten Monat empfahlen wir die Radioshows von Gilles Peterson, wir bekamen dort die Empfehlung zu diesem Stück aus gesunden Remixes für einen kranken Augenblick: Im einleitenden Telefongespräch dieses Jazz-HipHop-Electronica-Mixtapes, beschreibt der Dummer/Produzent Kassa Overall seine Situation: er muss mit dieser Zeit gerade irgendwas anfangen. Keine Shows, keine Bandproben, aber die Kreativität ist da, also macht er sich dran ein Mixtape aufzunehmen. Darauf remixed er alte Helden (Miles Davis), neue Helden (Makaya McCraven) und spielt selbst. Alles gekonnt mit einem roten perkussiven Faden in einander verwoben und die Herkunft des HipHops verdeutlichend. Mal angenehm groovend, mal schön hektisch, mal entspannt fließend. Sprich, ein cooles Mixtape nach allen Regeln der Kunst.

Moodymann – Taken Away (KDJ)

Müssen wir noch den bemühten Titel lebende Legend schreiben? Kenny Dixon Jr. hat schon immer einen gewissen Kult um sich betrieben, in „The Name of Cool“. Man kommt nicht drumherum, legendär sind seine Singles, seine Platten, seine Mixe, seine Auftritte inklusive Interviews. Manchmal gibt es längere Pausen zwischen neuen Alben, aber dann kommen sie wieder regelmäßig. Letztes Jahr das starke, gewohnt funkige, deepe „Sinner“, jetzt „Taken Away“, dem etwas melancholisches innewohnt. Selbstverständlich immer noch mit ausreichend soulwärmenden Funk, der das Discoerbe so transportiert, wie wir das bei House und Clubmusik lieben. Keine Kälte, keine Strenge, aber dafür auch, ja, Balladen quasi. Und ein paar Sample-Sirenen, aus denen man die aktuelle Zuspitzung im Rassismuskonflikt nicht mehr wegdenken kann. Noch nicht auf Vinyl erhältlich, aber auf Bandcamp.

Athletic Progression – Athletic Progression (Super Bad Disco / HHV)

Gibt es jemanden, der zu Instrumental HipHop und groovy Jazz nicht wenigstens etwas mit dem Kopf nicken muss, oder eine Situation in der die Stimmung nicht automatisch etwas mehr easy wird. Hoffentlich nicht. Die junge dänische Scene hat dafür jedenfalls auch ihren Vertreter, der nicht aus Kopenhagen kommt, sondern aus Aarhus. Das junge und gehypte Trio Athletic Progression hat nach dem 2019 Debüt nun die nächste Scheibe rausgebracht, eine lässige Platte, so kunstvoll zusammengestückelt aus Beats, Funk und Soulharmonien, man sollte meinen, da ist ein Sample- und Computerdevil am Werk. Doch alles ist wie bei Muttern, handgemacht, tight und technisch versiert.

Buscabulla – Regresa (Ribbon Music)

Sicherlich die inoffizielle Sommerhitplatte. Ein musikalisches, puerotricanisches Ehepaar aus New York, überlässt die Stadt den New Yorkern und geht zurück nach Puerto Rico. „Regresa“ heißt passenderweise Zurückkehren. In ihrem Sound bleiben sie jedoch glücklicherweise. Mit zwei gehypten EPs ließ sich vorausahnen, dass die LP genau so sprudelnd, lebendig und lebensfroh ist, wie man sich die Karibik vorstellt. Von den Rhythmen, zu denen auch eine hüftsteifes Berlinerclubkid tanzen kann, zu den smoothen Synthies und verträumten Elektrobaladen, kann das hier, das eine Album sein, dass du auf deine imaginäre Urlaubsinsel mitnimmst. Also tu ein Schirmchen in deinen Drink, öffne die Fenster und beglücke deine Nachbarn: „No Te Equivoques“.

Kyle Hall – From Joy (Wild Oats)

Wird von den Musik-Weisen als der würdige Nachfolger der Detroitlegenden gehandelt. Sein Debütalbum von 2018 fiel uns neulich im einem kleinen Kopenhagener Plattenladen in die Hände. Auf der Schutzhülle war noch noch ein Aufkleber der Berliner Vinylinstitution „Oye Records“, der hier neulich einen Pop-Up veranstaltet hatte, und u.a. dieses Tripple Vinyl Ausgabe mitgebracht und dagelassen hatte. Acht lange Tracks im beliebten Spannungsfeld zwischen House und Jazz. Treibend, lässig, die innere Hitze hervorbringend, weiß man, dass man fast jeder diese Nummern auf dem Dancefloor – manch einer erinnert sich noch – Kraft seiner Arme und Beine, überschwenglichst begrüßen würde. Auf der anderen Seite sind sie cool und zurückgelehnt genug, um in der Cocktailhour Zuhause aufgelegt zu werden.

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