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Feuilleton Literatur 22. April 2020

Literarisches Sixpack mit Christian Y. Schmidt

Christian Y. Schmidt war bis 1996 (!) Redakteur des Satire-Magazins „Titanic“. Seitdem arbeitet er unter anderem als freier Autor, lebt in Peking und in Berlin und schmückt sich mit dem Titel des Senior Consultant der legendären Zentralen Intelligenz Agentur. Spätestens seit dem Jahr 2005 ist Schmidt bekannt durch seine China-Bücher „Allein unter 1,3 Milliarden“ (2010 als „Duzi zai 13yi ren zhi zhong“ auch auf Chinesich) und 2009 der China-Crashkurs „Bliefe von dlüben“.

Der Berliner Tagesspiegel schreibt: „Seine Bücher sind satirisch grundiert und weisen Schmidt als China-Versteher aus, der sich auch regelmäßig über die in seinen Augen undifferenzierte deutsche China-Berichterstattung beschwert.“ 

Gerade jetzt, Corona ist überall, lohnt es sich, den täglichen Beiträgen auf Schmidts Facebook-Profil zu folgen. Aufgrund der aktuellen weltweiten Reisebeschränkungen ist Christian Y. Schmidt aktuell in Berlin und darf nicht mehr nach China einreisen. Diese Gelegenheit haben wir genutzt, ihn nach seinem sechs Lieblingsbüchern zu fragen. Und möchten an dieser Stelle ebenso seinen aktuellen Roman „Der kleine Herr Tod“ empfehlen, der möglicherweise eine geeignete Lektüre für ein paar Tage in der Selbstisolation ist.

1.) Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Schuld und Sühne

Von einem Roman erinnere ich selten die Handlung, aber eigentlich immer, welches Gefühl er bei der ersten Lektüre hervorgerufen hat. „Schuld und Sühne“ entfachte in mir einen wahren Sturm. Ich kaufte das Buch mit neunzehn Jahren in einem Antiquariat in Athen. Die rote Leinenausgabe von Piper mit den in Gold aufgedruckten Initialen „FMD“. So rettete mir Dostojewski den Interrailurlaub mit meiner ersten Freundin, die mir auf dieser Fahrt erklärte, dass sie sich eigentlich nicht als meine Freundin betrachtete. Für den Rest der Reise war ich Rodion Raskolnikoff.

2.) August Strindberg: Plädoyer eines Irren

Strindberg schrieb das autobiographische Buch nach der Trennung von Siri von Essen, die ihn in eine schwere Krise stürzte. Überall sieht der Ich- Erzähler Zeichen, bemerkt seltsame Koinzidenzen, fühlt sich verfolgt und gleichzeitig über Tausende von Kilometern hinweg mit seiner Noch- Ehefrau und seinem Kind auf magische Weise verbunden. Das Buch, das erst nach Strindbergs Tod erscheinen konnte, hat mich so beeindruckt, dass es mir als Inspiration zu meinem ersten Roman „Der letzte Huelsenbeck“ diente. Ich glaubte, ein Buch wie dieses, das recht kunstlos daherkommt, sei einfach zu machen. Da hatte ich mich schwer getäuscht, obwohl ich sogar einige Formulierungen und Szenen aus dem Buch geklaut habe (was bis heute niemand bemerkt hat).

3.) Gustave Flaubert: Madame Bovary

Bekanntermaßen sagte Flaubert über seine Titelheldin: „Madame Bovary, c’est moi“. Ich kann das gut verstehen, denn bei der Lektüre des Romans war auch ich Emma Bovary. Zugleich erging es mir bei der Lektüre genauso wie beim Lesen von Dostojewskis „Idiot“: Die ganze Zeit will man der Hauptfigur zuschreien – hier Fürst Myschkin, dort Emma Bovary -: „Tu’s nicht. Und bitte, bitte halt doch mal die Klappe.“ Wenn man sich doch nur selbst beim Fehlermachen so zusehen könnte, wie in Romanen den Figuren, man wäre eventuell ein klügerer Mensch.

4.) Edgar Allen Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym

Ich glaube, ich war vierzehn, als mir meine Mutter die Erzählungen von Edgar Allan Poe schenkte: Zwei Bände, illustriert von Alfred Kubin. Obwohl mich die Geschichten ängstigten wie sonst nur meine eigenen Alpträume, musste ich sie unbedingt zu Ende lesen. Etwas später entdeckte ich Arthur Gordon Pym, den einzigen Roman von Poe. Die gewaltige Gestalt, die am Ende des Romans in einem Katarakt erscheint und deren Haut „von der völligen Weißniss des Schnees“ war (keine Ahnung, in welcher Übersetzung das so stand), hat mich mein Leben lang begleitet.

5.) Haruki Murakami: Wilde Schafsjagd

Ich habe Murakami lange ignoriert, weil ich ihn für einen Modeautor hielt. Außerdem schreckte ich zwischen meinem dreissigsten und etwa dem fünfundfünzigsten Lebensjahr vor phantastischer Literatur zurück. Ich glaubte wohl unterschwellig den deutschen Feuilletonunsinn, dass es sich dabei nicht um echte Literatur handeln könnte. Dann las ich „Wilde Schafsjagd“ und wurde sofort Murakami-Fan. Das hat sich mit vermehrter Lektüre etwas relativiert – irgendwann kennt man die Zutaten und das Muster -, doch hat mich der Japaner andererseits dazu ermutigt, selbst einen Roman zu schreiben. „Was Du kannst“, sagte ich, „kann ich auch“. Und ich hatte recht.

6.) Philip K. Dick: Ubik

Auch Philip K. Dick zählt zu meinen Säulenheiligen. Einigen seiner Büchern merkt man leider an, dass sie unter enormem Zeitdruck geschrieben wurden. Ubik nicht. Es ist ein Meisterwerk, das ich erstmals an einem glutheißen Strand in Frankreich las. Die Welt um mich herum versank, bis ich einen schweren Sonnenbrand bekam. Bei Dick geht es eigentlich immer um die Frage: „Wie real ist das, was wir für die Realität halten?“ So auch bei mir. „An allem ist zu zweifeln“, ist dem „Der letzte Huelsenbeck“ vorangestellt.

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