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Feuilleton Literatur 23. April 2020

Literarisches Sixpack mit Anders Haahr Rasmussen

Ein dänischer Journalist (und studierter Soziologe) mit einem Themenfokus auf Prostitution, Gender, die neue Männlichkeit und unser aller Zusammenleben. Dürfen wir vorstellen: Anders Haahr Rasmussen.

2018 veröffentlichte er sein Romandebüt, das seit Februar unter dem Titel „Eigentlich wollte ich keine Kohlrüben kaufen“ auf Deutsch erhältlich ist. Da es auch etwas Zerstreuung braucht, arbeitet er nebenher als Tenniskommentator und hatte vor Corona die Aussicht auf einige Stunden in Stadien und warmen Orten rund um die Welt – Pusteblume.

„Eigentlich wollte ich keine Kohlrüben kaufen“ ist ein Kochbuchroman über Essen als Eskapismus, Genuss und Identität. Wie handelt man richtig? Wie hat man nicht nur die richtigen Meinungen, sondern handelt tatsächlich auch nach ihnen? Auftritt Amanda: Sie ist Anfang dreißig, Vegetarierin und Soziologin. Sie ist der Inbegriff der politischen Korrektheit und trotzdem irgendwie unsympathisch, heuchlerisch und manchmal wirklich over the top. Für diese neue Folge „Literarisches Sixpack“ hat Anders uns seine ganz aktuellen und all-time Lieblingsbücher verraten.

© Nord Verlag

1.) Maggie Nelson: The Argonauts

Ich habe mich mitten in der Ostsee isoliert, auf der dänischen Insel Bornholm, wo meine Großeltern vor vielen Jahren eine Meierei betrieben. Der Abstand zwischen den Häusern ist groß, also der perfekte Ort um die Corona-Krise zu vergessen und Bücher zu lesen. Gerade habe ich diesen Genrehybriden von einem Essay-Roman-Selbstbiografie oder so, angefangen. Und obwohl ich nur 50 Seiten gelesen habe, traue ich mich ihn zu empfehlen. Es ist eine sehr intensive, persönliche Erzählung, gemischt mit philosophischen Zitaten und politischer Gesellschaftsanalyse. Der Leser ist in guter Gesellschaft, ich fühle mich lebendig. Als Autor ist es auf eine Weise inspirierend, die mir Lust gibt auf die Konventionen zu pfeifen und so zu schreiben wie ich will.

2.) Ben Lerner: Leaving the Atocha Station

Hiermit bin ich vergangene Woche fertig geworden, und ich zog die letzten Seiten über mehrere Tage hinaus, weil ich nicht wollte, dass es endete. Vor allem weil es so überlegen gut geschrieben ist. Ruhig und präzise und trotzdem unvorhersehbar. Auf Satzniveau ist es die beste neuere Prosa, die ich gelesen habe. Und es gelingt Lerner ein Konzept zu erneuern, das ansonsten etwas runtergekommen war: Ein viel zu belesener junger Mann hat eine Krise, weil er seinen Platz im Leben sucht. Es ist sowohl postmodern als auch hip und humorvoll, aber gleichzeitig voller Herz.

3.) Hier habt ihr mich – Neue Gedichte aus Dänemark

Ich könnte diese Liste mit neuen dänischen Büchern füllen, aber die sind soweit ich weiß (noch) nicht ins Deutsche übersetzt: Theis Ørntofts ”Solar”, Asta Olivia Nordenhofs ”Penge på lommen” und ”Det nemme og det ensomme” (gibt es auf Egnlisch), Bjørn Rasmussens ”Huden er det elastiske hylster der omgiver hele legemet”, Anders Abildgaards ”Ibis”, Jonas Eikas ”Efter solen”. Da geht einiges und das ist richtig cool. Bis die große Welt die kleinen auf den Schirm bekommt, müsst ihr euch mit dieser Anthologie zufrieden geben. Sie erschien vor ein paar Jahren und ist eine Anthologie mit Gedichten, mehrere davon auf Deutsch und Dänisch.

4.) Michel de Montaigne: Essays

Eigentlich tue ich mich mit Klassikern schwer. Schon bevor ich angefangen habe, fühlt es sich nach Pflichtlektüre an, und meine eigenen hohen Erwartungen sorgen dafür, dass ich in der Regel enttäuscht werde. Das trifft in diesem Fall nicht zu. Montaignes Essays sind rein, klar und schlicht. Meine Ausgabe ist voller Striche und Notizen, teils weil ich selber Essayist bin und mich inspirieren lasse, teils weil ich mich gehört und verstanden fühle. Als hätte ich ein Gespräch mit einer klügeren, älteren Version meiner selbst. Es ist mir fast unbegreiflich, dass das hier vor bald 500 Jahren geschrieben worden ist.

5.) Richard Williams: Black and White

Ich arbeite als Tenniskommentator für Eurosport und schreibe momentan an einem Buch über Serena Williams. In diesem Zusammenhang stolperte ich über die Autobiografie ihres Vaters. Es geht dort eher weniger um Tennis, als um das Aufwachsen als schwarzer Junge in den amerikanischen Südstaaten in den 1950ern. Es ist brutal und brutal mitreißend. Und es setzt die Taten der Williams-Schwestern in ein anderes Licht. Ich wusste immer, dass die USA in vielerlei Hinsicht auf Sklaverei und Rassismus fußen, aber ich hatte es noch nicht so wirklich mit dem Bauch verstanden, bevor ich dieses Buch gelesen hatte.

6.) David Foster Wallace: Brief Interviews with Hideous Men

Mein Weg zu David Foster Wallace führte mich erst über seine Tennisessays hin zu seinen Kurzgeschichten, und endlich, letztes Jahr, gelang es mir mit seinem Wälzer „Infinite Jest“ (Unendlicher Spaß) zu lesen. Es ist souverän, aber vielleicht nicht das Richtige für den Anfang. Deshalb möchte ich lieber „Brief Interviews …” empfehlen, das ich auch letztes Jahr gelesen habe. Eine wilde und unbändige Textsammlung ohne einen einzigen lahmen Satz. Jedes Mal wenn ich eine Seite las, bekam ich Lust mich hinzusetzten und selber zu schreiben. Außerdem ist es besonders interessant für mich, weil ich mich viel mit Gender und Maskulinität beschäftige, und das Angebot an interessanten weißen, heterosexuellen Männern auf diesem Gebiet meistens eher dünn ist.

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