Eigentlich hätte diese Woche Tom Kummer seinen neuesten Roman „Von schlechten Eltern“ im Maschinenhaus der Berliner Kulturbrauerei erstmals vorgestellt. Aus bekannten Gründen musste die Lesung verschoben werden. Wer ist aber eigentlich dieser Tom Kummer? Erstmals kam ich mit ihm durch sein Buch „Good Morning in Los Angeles“ (erschienen 1997) in Berührung, dessen Thematik und Sound mich bis heute fasziniert. Und sonst so? Über Kummer wurde viel geschrieben, Tom schrieb selbst viel. Manchmal zu viel. Als Journalist, als Autor. Unter anderem für Tempo, das SZ-Magazin sowie für Die Zeit, Der Spiegel, NZZ, FAZ, Stern und Vogue.
Und worum geht es in „Von schlechten Eltern“? „Ein Mann kommt mit seinem Sohn zurück. Er hat seine Frau verloren und eines seiner Kinder in Los Angeles zurückgelassen. Nachts fährt er als Chauffeur durch sein Heimatland, das ihm Himmel und Hölle zugleich ist, auf der Suche nach einem neuen Leben.“ Ein Roman, den man im Jahr 2020 gelesen haben muss. Uns hat Tom Kummer für eine neue Folge „Literarisches Sixpack“ seine Lieblingsbücher verraten.
1.) Cormac McCarthy: Die Strasse
Düsternis bewegt mich, hält mich am Leben. Das war schon als Teenager bei Joy Division so. No Future. Die Welt nach dem Ende der Welt. Mit Depression hat das wenig zu tun. Eher mit einer heiteren Melancholie die mich schon immer durchs Leben getragen hat. Sink or Swim. Das Szenario in Die Strasse ist postapokalyptisch und erfüllt alle düsternen Sehnsüchte. Die Welt ist verbrannt, verkohlt, entseelt. Ein paar marodierende Menschen sind übrig, schrecken vor nichts zurück. Im Zentrum stehen Vater und Sohn. Es herrscht totale Reduktion aufs Grundsätzliche. Wie die Sprache von McCarthy. Und das ist die ganz große Kunst: Das Wesentliche anklingen zu lassen, ohne es direkt zu benennen. Eine fantastische Reduktion von Sprache, auf das wertvollste Material heruntergeschliffen. Wenn nichts mehr geblieben ist als die Liebe…
Mit Sechszehn gelesen, wie Hirnporno. Das Buch unter der Matraze versteckt als ob es wirklich was Verbotenes wäre. Monströse Bilder der Entmenschlichung. Hier ist ein Autor aufs Äußerste entschlossen zu einer fundamentalen Provokation auszuholen. Das hat mich schwer beeindruckt. Mit Sprache Grenzen überschreiten, auch Formal die Leser aufs Äusserste strapazieren, brutalisieren. Format Rebellion. Ästehtik wichtiger als Ethik. Der Apokalyptiker. Stumm machenden Beweise auf den Tisch legen: „Menschen sind nichts als ’n Haufen Scheiße.“ Auch stilistisch soll dieser Roman von den Anstrengungen eines dauernden Überwältigungsversuchs beben. Seit dem bahnbrechenden und subtil-vulgären Antiroman „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline gab es noch nie solchen Examensstoff zu lesen – und wird es auch nicht mehr geben. Dafür ist die Zeit zu politisch korrekt, zu hypermoralisch. Natürlich wurde Mauern anfänglich verboten. Fair enough.
3.) Tom Wolfe: Der Electric Kool Aid Acid Test
Es war die monumentale Erkenntnis eines glinzernden Augenblicks! Schreiben is the shit! Damit kriegt man die aufregendsten Boys and Girls, dachte ich. Da können selbst Rockstars einpacken. Fuck alle deutschsprachigen Langweiler. Schreiben ist wie Pop-Art. Wie Andy Warhol mit einer Schnellfeuer-Schreibmaschine. Wolfe schreibt durchgeknallte, sarkastische, abgehobene Bilder. Kitschig-bewusst! Low Camp! High Camp! Brutal sarkastisch, banal, leer, vulgär – eine geile Freude. Er ist nicht der Einzige. Da sind natürlich auch Joan Didion, Hunter S. Thompson oder Truman Capote. Die starre Trennung von U- und E-Kultur wird nicht mehr respektiert, die Trennung von Oberflächlichem und Tiefsinnigem, von Alltagskultur und Bildungsgut: Damit ist jetzt Schluss. Eher den Spaß am Trivialen kultivieren und narzisstisch unser Ich beobachten. Der Alltagskultur eine semiotische Qualität zusprechen und aus den Materialien der Popkultur Zeitdiagnosen abgeleitet. Schärfer hat das noch keiner geschafft. „Fuck! Fuck! Fuck! – Morgen reiße ich so einer Spießersau einfach die Ohren aus!“
4.) Raymond Carver: Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden
So präzis, einfühlsam und unsentimental sind Lebensumstände und Lebensgefühl vorher in den unteren und mittleren Schichten der nordamerikanischen Gesellschaft wohl selten in Sprache gefasst worden. Social Realism nennt man das, glaube ich. Völlig egal, wie man es nennt. Die Unterseite von Amerika. Das hat mich schwer beeindruckt. Eine existenzielle Erfahrung. Carver thematisierte das Leben des armen, weißen Amerikaners, der verzweifelt und von persönlichen Tragödien gezeichnet an eben diesem Leben zerbricht. Und er revolutioniert dabei die Kunst der Short Story. Dabei muss man unweigerlich auch seinen Lektor Gordon Lish erwähnen, der Carvers lakonischem Stil mitkreiert hat und damit beweist, dass Literatur auch Konstrukt ist, Teamarbeit, mit Hilfe von genialen LektorInnen erschaffen. Denn das Phänomenale an Carvers Sprache ist, dass das Wichtigste immer unerwähnt bleibt. Der Sprache haftet etwas Nonchalantes und Gleichgültiges an, als wollte sie sagen: Eigentlich ist das doch alles scheißegal, es bedeutet nichts, aber wo wir schonmal hier sind, kann ich es auch erzählen…
5.) James Frey: Strahlend Schöner Morgen
Für mich galt immer City of Quarz von Mike Davis (1990) als das wichtigste Los Angeles Buch aller Zeiten. Aber dann kam dieser Frey und legte mich aufs Kreuz. Mit dem Wahn der Wirklichkeit, der dreckigken Realität für die man erst mal Sprache finden muss. Das geschieht hier auf triumphale Art. Das war genau das Buch das ich eigentlich mit Good Morning Los Angeles schreiben wollte, aber das wegen meiner damaligen „journalistischen Abgründe“ mehr zum „Nightcrawler“-Vorbild verwandelte. Egal! Zum Glück kam ja dieser Frey und legt einen Kosmos aus Sehnsüchten und zerstörten Träumen auf den heissen Asphalt. Ein triumphaler Montage-Roman. Milieustudie, Verwaltungsprotokoll, Medienbericht, Geschichtsbuch, Diskurs der Megacity. Alles drin. Besonders das Disparate der Komposition, die abstrakte Dimension, hat mich beeindruckt, wie ein Sampling-Meisterwerk von Beck. Damit kann man Frey locker in den Rang von Klassikern wie Dos Passos oder Utpon Sinclair heben. But who cares about Rang…
6.) Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex
Wir kämpfen alle. Auch in der westlichen Welt. In Frankreich, Deutschland, Schweiz… Darum gehts. Aber hier wird nicht nur die ökonomische Krise erzählt, sondern die Krise der Männlichkeit. Alle leiden irgendwie unter der Geschlechterordnung – Frauen, Queers und Transpersonen und so weiter, sie alle leiden sehr verschieden. Die Typen kämpfen damit, Maskulinität zu verkörpern und aufzuführen, um sich im sozialdarwinistischen Gerangel zu behaupten. Dabei sind sie eingekeilt in ihr chauvinistisches Gebaren, wohl wissend, dass die Tage, in denen diese Performance allgemein anerkannt war, gezählt sind. Hier wird geschildert, wie sich Menschen in ihren Selbstbildern verbarrikadieren, um die Illusion von Stabilität aufrechtzuerhalten. Ein Auswegsbuch aus der Verrohung und Vereinsamung… in Zeiten der Verunsicherung.
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