Die Rasierpinsel-Manufaktur Mühle ging durch viele Krisen: In der DDR verstaatlicht, im Nachwende-Deutschland wegen mangelnder Nachfrage fast geschlossen. Glücklicherweise stellt die Mühle Manufaktur aus dem Erzgebirge bis heute, mittlerweile in dritter Generation, hochwertige Accessoires, Rasierpinsel, Rasierer und Pflegeprodukte für die Nassrasur her, die weltweit eine große Fangemeinschaft hat. Zudem hat es das Unternehmen geschafft, in der Nische mit Rasierpinseln und Rasierhobeln wirtschaftlich erfolgreich sein. Wir haben uns mit Andreas Mühle, der mit seinem Bruder Christian das Unternehmen führt, zum Interview getroffen.
Mühle wurde 1945 gegründet und wird bis heute in dritter Generation als Familienunternehmen geführt. Kannst du uns etwas über die Höhen und Tiefen eines so lange bestehenden Unternehmens verraten?
Als Kriegsheimkehrer wußte unsere Großvater nicht, wie er seine Familie ernähren sollte. Er begann, in der eigenen Waschküche Borsten zu waschen und zuzurichten und produzierte mit wenigen Mitarbeitern erste Bürsten und Pinsel. Bald spezialisierte er sich auf Rasierpinsel und es gelang ihm, auch internationale Handelsverbindungen aufzubauen. So wuchs das Unternehmen schnell zu stattlicher Größe.
Leider verstarb er bereits mit 53 Jahren, lang vor unserer Geburt. Unser Vater – damals noch im Studium – übernahm das Unternehmen und baute ein neues, modernes Firmengebäude. Doch bald danach im Jahr 1972 führte die zweite Verstaatlichungswelle in der DDR zur Enteignung des Unternehmens. Nach der Wende gelang 1990 die Reprivatisierung und der Neubeginn unter denkbar schwierigen Bedingungen. Frühere Vertriebskanäle existierten durch die politischen Veränderungen im früheren Ostblock nicht mehr. Unser Vater kämpfte mit wenigen Mitarbeitern täglich um das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens. Erst Mitte der 1990er Jahre stabilisierte sich die Situation. Seitdem wuchs das Unternehmen stetig, in den letzten 15 Jahren zudem sehr dynamisch. MÜHLE bietet heute ein breites Sortiment and Pflegeprodukten auch jenseits der Rasur.
Die Digitalisierung und unsere sich deutlich schneller drehende Welt erfordert ein Umdenken von etablierten Prozessen. Wie verbindet ihr Innovation mit Tradition bei Mühle?
Tatsächlich beobachten wir die technologische Entwicklung sehr genau und wir implementieren ständig Innovationen. Das beginnt bei der ERP* gestützten Produktion, bei der jeder Fertigungsschritt gescannt wird, bis hin zum digitalen CRM**. Unsere Manufaktur vereint traditionelle handwerkliche Fertigungstechniken mit neuesten Technologien. Beispielsweise wurde das Firmensignet früher in den Metallfuß eines jeden Pinsels geprägt, später CNC-gesteuert gefräst. Heute geschieht das per Laser, da das Ergebnis noch präziser ist. Auch das Marketing hat sich grundlegend geändert. Soziale Medien und E-Commerce spielen eine große Rolle. In jedem Falls haben wir die Digitalisierung stets als Chance begriffen und gerade als Nischenmarke enorm davon profitiert.
*„Enterprise Resource Planning“ = „Unternehmens-Ressourcen-Planung“
**Customer-Relationship-Management = Kundenpflege
Was ist dein persönlicher Lieblings-Rasierer?
Ich mag viele unserer Produkte sehr zumal ich meist ihre Entwicklung verantwortet habe. Besonders mag ich den COMPANION, da er den Einstieg in die Rasur mit dem Rasierhobel erleichtert. Darüber hinaus steht er für viele Werte der Marke, ist unisex, langlebig und nachhaltig. In meinem Badezimmer steht jedoch der MÜHLE ROCCA – ein Rasierer komplett aus Edelstahl gefertigt. Er gibt ihn mit matter Edelstahloberfläche, schwarz beschichtet oder mit einem Griff aus Birkenrindenkork – ich finde alle drei Varianten wunderschön und mag die Performance des Rasierers sehr.
Wo findest du Inspiration und spielt die Umgebung des Erzgebirges dabei eine Rolle?
Inspiration finde ich häufig auf Reisen. Metropolen, Kunst und Architektur spielen hierbei eine große Rolle. Zudem verfolge ich Entwicklungen im Produkt- und Interior-Design sehr genau. Das Erzgebirge ist hierbei weniger Ort der Inspiration, sondern vielmehr Heimat, in die ich immer wieder gern zurückkehre. Hier finde ich Ruhe und Erdung auf dem Land, arbeite im Garten oder auf dem Feld und genieße die wunderschöne Natur auf dem Rad oder auf Ski.
Mit den Stores in Berlin Mitte und London Carnaby ist Mühle im Zentrum der Großstädte vertreten. Welche Stadt wäre interessant als nächste Shop-Location?
Die Shops sind hervorragende Markenbotschafter und ermöglichen den Kunden, MÜHLE vor Ort zu erleben – sei es in den integrierten Treatment Spaces oder indem man die Produkte vor Ort sieht, fühlt und, im Fall von Kosmetika, riecht und testet. In Asien und in den USA wächst MÜHLE aktuell besonders dynamisch – deshalb wäre ein nächster Store in einer dieser beiden Regionen denkbar. New York, Beijing, Shanghai oder Tokyo wären sicherlich gute Locations.
Nachhaltigkeit spielt eine wichtige Rolle bei euch. Kannst du uns mehr über die Nachhaltigkeits-Prozesse bei Mühle erzählen?
Das stimmt, ein möglichst verantwortungsvoller Umgang mit unserem Planeten und seinen Ressourcen liegt uns sehr am Herzen. Ein schönes Beispiel für unseren Nachhaltigkeitsansatz ist die neu gebaute, jüngst in Betrieb genommene Fertigungshalle (Halle 4). Eine Erdwärmepumpe und eine teils unterirdische, energiesparenden Lüftungsanlage sorgen für eine besonders hohe Gebäudeeffizienz.
Für die tragende Konstruktion im Gebäudeinneren wurden ausschließlich Hölzer aus dem heimischen Erzgebirge und dem benachbarten Nord-Tschechien eingesetzt – sie besitzen gute isolierende Eigenschaften und sorgen für ein gesundes Raumklima. Um noch ein paar weitere von vielen Puzzleteilen unserer Nachhaltigkeitsstrategie zu nennen: Wir produzieren ausschließlich mit Ökostrom, erzeugen zudem eigenen Strom über unsere Photovoltaik-Anlage, setzen in der Logistik auf CO2-neutralen Paketversand, der Gaskonsum wird CO2-kompensiert.
Für unser Packaging nutzen wir sortenreine Papier- und Pappverpackungen. Unsere Pflegeprodukte enthalten natürliche Inhaltsstoffe, bei der ORGANIC Serie handelt es sich um zertifizierte Naturkosmetik. Zu guter Letzt stehen unsere Kernprodukte für hohe Langlebigkeit – kurzweilige Trends sind für uns wenig interessant, sondern wir möchten unserer Kundschaft zeitlose Produkte mit einem langen Lebenszyklus bieten. Unterstützt wird das noch durch unseren Reparaturservice, mit dem wir sicherstellen wollen, dass kein Produkt früher entsorgt werden muss als absolut notwendig.
Photos: Halle 4 – Ersatzneubau Mühle Shaving Atelier © Simon Menges
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