Ich bin ein Landei. Ich bin ein Landei. Ich. Bin. Ein. Landei. Das ist mein Mantra geworden, mein Selbstverständnis und zu alledem ist die Beschäftigung mit dem „ländlichen Raum“ nun ein maßgeblicher Teil meines beruflichen Alltags. Das war nicht immer so und es war auch nicht geplant.
2010 hat mich die Liebe nach zehn Jahren Vollgas in Berlin gut 200 km südlich in den Landkreis Görlitz gezogen. Dort lebe und arbeite ich nun in einem kleinen Dorf mit ungefähr 80 Einwohnern direkt an der polnischen Grenze, also ziemlich „janz weit draußen – vor der Stadt, vor den Metropolen“, dort wo sich Wolf, Wildschwein und Kranich eine gute Nacht wünschen. Eine oft sternenklare Nacht, die der mobile Mensch der vielen Tiere wegen besser nicht schneller als mit 80 km/h durchfährt.
Wie es anfing: Im Sommer 2009 rief mich mein Freund Rolf an und lud mich ein, mit ihm eine Kinovorstellung in der Kastanienallee zu besuchen. Eine alte Freundin von ihm würde dort einen Film zeigen. Gesagt, getan. So lernten Arielle und ich uns kennen. Wenige Wochen nach dem Film im Off-Kino fuhren Rolf und ich dann nach Klein Priebus in die Oberlausitz, um die Filmemacherin zu besuchen. Klein Priebus? Irgendwie südlich von Berlin. Erst Richtung Cottbus um dann über holprige polnische Grenzgebietsstraßen über die Neiße hin und wieder zurück irgendwo zwischen Görlitz und Bad Muskau zu landen. Es folgten ein paar Tage „Programm“ und ich bekam einen Schnupperkurs in Sachen Oberlausitz.
Görlitz und Bad Muskau. Namen, die mir ja aus Berliner Zeiten wohl bekannt waren, aber zu den ich eben bis auf die Straßennamen im alten SO36 Kiez bzw. Görlitzer Bahnhof und Park keine Beziehung hatte. Meine Orientierung ging immer eher gen Norden in die Uckermark, an die Küste und auf die Inseln, aber der Süden von Berlin, der östlichste Osten? Keine Ahnung. Nun denn: Mein erstes Mal in Görlitz war einfach nur „Wow!“. Was für eine schöne und interessante Stadt. Warum hatte mir das niemand mal vorher erzählt? Da tat sich plötzlich ein Füllhorn auf. Eine spannende Natur- und Kulturlandschaft mit einem ebenso spannenden Dreiländereck gen Polen und Tschechien, Seenlandschaften, Berge und Gebirge und viel, wirklich viel ländlicher Raum, viel Platz, viel Ruhe und viel Freiräume für alles Mögliche.
Eines kam zum anderen. 2010 habe ich mich entschlossen Berlin zu verlassen, um mit Arielle eine Lebens-Arbeits-Gemeinschaft zu starten. Heute, acht Jahre nach meinem Umzug, arbeiten und leben wir zusammen im eigenen Dreiseitenhof, haben einen sechsjährigen Sohn, zwei Katzen, genug Arbeit mit unserer Kreativ-Agentur, sind bestens in der Region vernetzt und eingebunden… und haben unseren Draht nach Berlin nicht verloren. Ganz im Gegenteil.
Aus unserem Werdegang – von der Metropole aufs Land – ist eine Mission gewachsen. Beruflich bedingt haben wir uns über die Jahre zunehmend mit dem Themenkomplex „demografische Entwicklung/Strukturwandel“ beschäftigt und dabei festgestellt, dass wir nicht nur lokale Protagonisten dieses Wandels sind, sondern auch Botschafter, die aus einer ganz subjektiven Wahrnehmung heraus den Großstädtern berichten können „wie das so ist auf dem Land“. Aufgegriffen haben wir dazu die Anfang der 2000er aufgekommene Vokabel der „Raumpioniere“. Wir also sind Raumpioniere und helfen denen, die es auch werden wollen.
Es hat allerdings ein paar Jahre und ein paar Anläufe gedauert bis wir durchstarten konnten. Wir haben bergeweise Literatur verschlungen, Medien durchforstet, Veranstaltungen besucht, Kontakte bundes- und europaweit geknüpft, Klinken geputzt und Projekte analysiert, die sich mit dem Thema „rural resettlement“ beziehungsweise mit Rückkehrern und Zuzüglern in den ländlichen Raum beschäftigen. Dabei haben wir festgestellt, dass vor allem Verwaltungen Projekte in dieser Richtung anschieben und hier durchaus in einem Wettbewerb getreten sind, denn die demografisch bedingten Schrumpfungen im ländlichen Raum gibt es bundesweit. Aktuell gehen die Statistiker (noch) von Schrumpfungen aus, die im Mittel rund 20% betragen und in einzelnen Ortslagen bis zu 30% – und das nicht irgendwann später mal, sondern in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Das ist heftig. Die Metropolen dagegen wachsen.
Wir haben darüber nachgedacht, was denn nun den jeweiligen ländlichen Raum attraktiv macht und wie man Menschen dazu animiert, die Metropole hinter sich zu lassen. Schöne Natur, Freiräume und super günstige Häuser plus Fördermittel (z. B. EU Leader Programm) gibt es in vielen ruralen Ecken Deutschlands – das allein kann es also nicht sein. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Mensch wird vom Menschen angezogen und am ehesten dann, wenn eine „kritische Masse“ bereits mehr oder weniger etablierter „Raumpioniere“ in einem überschaubaren Gebiet zusammengefunden hat. Ist ja auch einleuchtend. Die allermeisten Menschen suchen eben nicht die totale Einsamkeit, sondern ihren Schwarm und den gibt es freilich nicht nur in der Stadt, sondern natürlich auch auf dem Land.
So ist unser Projekt „Raumpionierstation Oberlausitz“ entstanden. Mit der Hilfe eines Trägervereins und Fördermitteln der sächsischen Staatskanzlei haben wir im Herbst 2017 die Basics umsetzten können, darunter eine Homepage, massive Pressearbeit und diverse klassische Aktivitäten mit einer Bandbreite von on- bis offline „Werbung“ z.B. riesige mobile Großplakate, die in Berlin und Dresden für mächtig Aufmerksamkeit gesorgt haben.
Unser Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass wir keine vermeintlich dröge Verwaltung sind, sondern „ganz normale“ Menschen: Das erleichtert anderen Menschen den Zugang. Arielle und ich, aber vor allem „unsere“ Raumpioniere sind Menschen, die den Schritt bereits getan haben, die angekommen sind und in ihrer bunten Vielfalt ganz persönlich davon berichten können, wie sie das Landleben meistern. So können wir über die Projektseite einen zunehmend wachsenden ländlichen Schwarm sowohl nach innen wie nach außen darstellen und damit eine Beratungskompetenz (ländliche Entwicklungshelfer) vermitteln, die sich am persönlichen Mit- und Füreinander festmacht. Das kommt wirklich gut an. Ein schöner Side Effect ist, dass wir natürlich eine Menge interessanter Leute kennenlernen und ein paar von ihnen Teil unseres Lebens werden, denn auch wir wollen ja „schwärmen“ ergo unseren Schwarm vergrößern.
Auch in 2018 wird unser Projekt gefördert. In diesem Jahr folgt eine Landei-Stadtpflanzen-Netzwerkveranstaltung, die am 6. Oktober in der reizenden Hafenstube in Weißwasser ausgerichtet wird und im Sommer bringen wir ein multifunktionales Raumpioniermobil auf die Straße und werden die erfolgreiche Crossmedia-Bewerbung fortsetzen.
Zukunftsmusik
Ich kann den Statistikern nicht so recht glauben. Natürlich schrumpft der ländliche Raum, aber gefühlt und erlebt gibt es bereits einen sichtbaren Wandel, der das Bedürfnis vieler Städter nach dem ländlichen Raum spiegelt. Ob in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Sachsen (…und nicht viel anders in den alten Bundesländern): Es tut sich was und allein über die letzten fünf Jahre betrachtet, hat sich sehr viel getan. Natürlich lassen sich die schrumpfenden Regionen nicht eins zu eins auffüllen. Das ist nicht realistisch und auch nicht nötig. Der ländliche Raum allerdings kann als lebenswerte Option dargestellt werden, ohne Stadt gegen Land auszuspielen. Hier kommen wir und die vielen Projekte und Menschen ins Spiel, die an vielen schönen Orten Deutschlands bereits begonnen haben, ihre Lebensmodelle von der Stadt aufs Land zu transportieren. Neue Mobilitätskonzepte und die fortschreitende Digitalisierung der Welt spielen uns dabei zu, und so kann ein Modell der Zukunft ja auch bedeuten beides zu haben, also Stadt und Land.
Kommentaren