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Best Of Feuilleton Kunst Musik 11. September 2018

Kunst erleben, wo andere Musik hören: Das andere Roskilde Festival

Welcome to Dream City

Wir kommen vor der größten Bühne des Festivals an, der Orange Stage. Nehmen uns ein paar Kopfhörer, setzten uns auf eine Matte, dann lauschen wir der Stimme. Es ist weder die Stimme von Charlotte Gainsbourg, noch von David Byrne, nicht mal die von Anderson .Paak, Künstler, die im Laufe des Festivals noch auftreten werden – es ist die von Ieva, einer in Kopenhagen lebenden Ungarin. Ieva ist Yogalehrerin und zusammen mit ihrem Freund dem Isländer Magnus, bieten sie hier stündlich Silent-Yoga an – bis die Musik anfängt.

Mal einen anderen Festivalstart wagen, all die Erlebnisse aufsuchen und aufsaugen, die man sonst nirgendwo findet oder ausprobiert. Das alternative Programm (zur Musik) besteht u.a. aus Kunst, Debatten, Lesungen, Essen und Sport. Das Roskilde Festival, letztes Jahr schon in seiner überwältigenden Pracht hier beschrieben, definiert sich nicht nur durch sein eklektisches Musikprogramm, sondern gerade über das Mehr-als-Musik-Programm. Dieses Mehr muss man wollen, sollte man wollen, um es zu erleben. Nicht weil es schwer zu finden ist, sondern weil es ein ambitiöses Programm ist. Diesjähriges Festivalthema war Equality. Genauer: Ökonomische Ungleichheit und die aus ihr resultierenden Konsequenzen, Auswirkungen und Gefühle, die sich nicht nur in der Kunstwerken und Perfomances wiederfinden ließen, sondern auch auf dem Fußballplatz der Sport-Zone des Geländes. Unterschiedlich große Tore und verschiedene Beläge. Von Anfang an kein faires Spiel, wie immer häufiger in der Welt – selbst in glücklichen Ländern wie Dänemark.

Hinter dem Zaun ist vor der Mauer

Die Kunst begegnete einem teils in der Art-Zone teils spontan auf dem Gelände, wie z.B. „Diesel Worm“ nach einem Konzept der beiden Deutschen Paul Barsch und Tilman Hornig und der Mithilfe weiterer Künstler. Sie schafften es ökonomische Ungleichheit auf gleichem Raum sichtbar zu machen, indem sie drei Stretchlimos über den Campingplatz fahren ließen, jeweils ausgestattet mit kleinen Kunstwerken, und mit Platz für jeweils eine Handvoll Festivalgäste. Während man in der klimatisierten Limousine saß, saßen draußen in der Hitze die anderen Gäste im Staub und um sie herum lag Müll, aus dem Pfandsammler die verwertbaren Reste klaubten.

Über das Gelände wand sich nicht nur der Diesel Wurm, sondern auch ein lärmender Protest Marsch für mehr Gleichheit. Folgte man diesem, stand man plötzlich im Schatten. Nicht von Bäumen, sondern im Schatten der „Equality Walls“. Ein originalgetreuer Nachbau der Modelle, die für Trumps Mexiko-Mauer gebaut worden waren. Vier Stück, jede fünf Meter breit und zehn Meter hoch. Unüberwindbar, kalt und mit einem Ziel: Die Menschen auf der einen, von denen auf der anderen Seite und ihrem Leben fernzuhalten. Ein bemerkenswertes Stück Separationsarchitektur, das man sich nur schwer mehrere Kilometer lang vorstellen kann und will. Hier versperrte es nur die Aussicht auf einen Festivalplatz und die Sonne, in Israel oder vielleicht bald den USA, die freie Beweglichkeit und die Möglichkeit auf ein besseres Leben. Dann setzt sich der Protestzug wieder in Bewegung über das Gelände, für eine Welt ohne Mauern und Zäune.

Datenleaks und Datensicherheit

Einer der Headliner auf dem Programm war ausnahmsweise kein Künstler, sondern die ehemalige Soldatin und Whistleblowerin Chelsea Manning, die vor zwei Jahren von ihrer 35 jährigen Haftstrafe von Barack Obama begnadigt wurde, und für ihrem ersten Auftritt in Europa nach Roskilde gereist war. Um die 1000 Gäste waren, nach langem Anstehen, gekommen, um Manning zu sehen, zu hören und ihr viel Beifall zu spenden, während sie ruhig von ihrem Wandel vom perspektivlosen Jugendlichen über Computerspezialisten bei der Army zur weltberühmten Whistleblowerin mit anschließendem Gefängnisaufenthalt und Geschlechtsumwandlung erzählte. Und auch über ihr heutiges Leben als Aktivistin und Vorbild für Transgender Personen. Ein Leben, das so langsam und zum ersten Mal anfängt ein geregeltes Leben zu sein, mit dem Unterschied der Berühmtheit und dem komischen Gefühl „einen Unterschied“ gemacht zu haben. Von Manning und Datenleaks zu Datensicherheit und Digitalisierung in der Gesellschaft, die auch oder erst recht nicht vor einem Musikfestival halt macht, was sich in auch verschieden Kunstwerken wiederfand.

© Camilla Zuleger

Einverständniserklärungen sind nichts was man liest, sondern was man wegklickt. So auch in der Barinstallation vom Duo Lysbid. In ihrer Bar aus leuchtendem Plastik, waren die Barkeeper vermummt und stumm. Die Jellyshots, gab es nicht ohne Scan des Fingerabdrucks und einer unterzeichneten Einverständniserklärung. Ein Werk, dass die Frage gestellt, wie wichtig einem der Schutz der persönlichen Daten in einer Zeit ist, wo soziale Medien die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwinden lassen, in einer Zeit wo man auf einem Festival ist und gerne Alkohol hätte. Erstaunlich vielen war es nicht so wichtig, berichten die beiden Künstlerinnen Anna Østergaard Laursen und Maria Cramer-Müller später. Der Facebook Skandal um Cambridge Analytica ist im Festivalgewissen anscheinend nicht präsent, aber ebenso wenig werden die Fingerabdrücke wirklich gespeichert, wie man erfährt, wenn man die Erklärung zu Ende lesen würde.

Ist das Kunst…?

Ist es nun gerechtfertigt, dass das Roskilde Festival rund 400.000 Euro in sein Kunstprogramm investiert oder sollte lieber noch mehr Bands gebucht werden? Wir plädieren für sehr gerechtfertigt. Den mit der Art Zone und dessen Clubbereich, dem KlubRå, der Bühne für audiovisuelle Konzerte, Performances und Lesungen bot, wurde ein offener Raum für ungewöhnliche Musikfestivalerlebnisse geschaffen. Das Erlebte ließ uns nachdenken, diskutieren und war teilweise auch schlicht schön oder witzig. Wie in den meisten Ausstellungen funktionierte manches sofort, manches nicht und manches erst wenn man es diskutierte oder die Einordnung einem der Museumsguides überließ, die durch die Art Zone führten. Sicherlich ist die Abwägung zwischen gehypter Band und unbekanntem Perfomancekünstler nicht immer leicht, und doch wurde man für seinen Mut belohnt.

Natürlich hat nicht jedes Festival die Kapazität, so ein Programm zu entwickeln, und wohl auch nicht ein so neugieriges Publikum, dass sich begeistert darauf einlässt. Das Roskilde hat beides, weshalb wir dazu raten können, nach Dänemark zu fahren, auf dem Festival sein Zelt aufzuschlagen und sich dann nicht von Bands locken lassen, sondern das Unbekannte aufzusuchen.

Gelegenheit dazu gibt es nächstes Jahr vom 29. Juni bis 6. Juli. Wir sind bestimmt wieder dabei.

© Camilla Zuleger

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