Springe zum Inhalt →

Personal 23. März 2020

Arbeitslos und Angst vor draußen? Werde doch Produkt-Tester!

Für zahlreiche Freiberufler ist es genauso unangenehm wie für etliche andere Berufsgruppen derzeit. Das hat sich auch im Marketing auf Social Media-Kanälen herumgesprochen. Über die Anbiederung der Wirtschaft via Anzeige, über die Arbeit mit der Angst.

Ja, ich würde die Angst sehr gerne anzeigen. Wegen bisweiliger Maßlosigkeit, aber auch wegen Fahrerflucht, wenn’s dann zur Entkräftigung ihrer Gründe kommt. Unter allen derzeitigen, ist die Angst nämlich nicht nur ein fieser, sondern auch ein feiger Verräter. Sie bringt Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie vor einem halben Jahr noch belustigt belächelt hätten. Zumindest versucht sie es mit allen Mitteln.
In Wahrheit kann man die Angst ja gar nicht anzeigen. Aber, und das muss man ihr lassen – sie ist so fair und tut das selbst. Über eine Anzeige, logischerweise. Und weil Angst nicht von gestern ist, nutzt sie als ihren liebsten Kanal Instagram, in nostalgischen Zeiten auch Facebook.

Ob ich Kosmetikprodukte testen mag, komplett handgemacht und bio, im Hintergrund eine badende Dame mit Handtuch-Turban, Aloe Vera am Wannenrand und auf die selbstverständlich rasierten Beine schmiert sie sich vermutlich besagte Lotion. Da dies allerdings, wie so oft, bloß ein “Serviervorschlag” ist, ist vermutlich weder die Badewanne, noch die Pflanze mit drin. Der Subtext nämlich lautet: “Du bist jetzt richtig viel zuhause, Geld hast du vermutlich auch keines mehr, denn du hast deinen Job verloren und einkaufen gehen willst du auch nicht. Virus zum einen, kein Geld zum anderen. Gib uns doch einfach deine Daten und mit der achtel Chance eines Lottogewinns bekommst du eines Tages ein Pröbchen.”

In jeder dritten Story auf Instagram darf ich nun eine andere Expertin werden: Hanteln, Uhren, Jeans, Essen, ganz viel Essen, aber auch für einen Lockenstab. Oder, wer sich genereller halten will, sucht einfach nach “Tester für Online-Produkte”. Und ja, es stimmt – manchmal creme ich mich ein, auch mein Fitti hat zu, Klamotten trage ich oft, ich ernähre mich und habe keine Locken. Zwar will ich die nicht, und auch die Uhrzeit interessiert mich dieser Tagen null, aber im großen und ganzen haben sie mich ganz gut getroffen. Denn auch das Internet benutze ich zufälligerweise.

Teilen, Verlinken, Gesicht ins Bild

Wohingegen Anzeigen zum “Zertifizierten Online Marketing Experte” oder Amazon-Mitarbeiter im Home Office dagegen beinah unter die ernstgemeinten Jobanzeigen der letzten Tage fallen, gibt es dann noch die Angebote aus Cambridge, Yale oder Jstor, die ihre Dienste nun für umme öffentlich stellen. Ja, möglicherweise mag auch das Werbung sein, allerdings unterstelle ich der Yale Uni nicht, dass sie meine Daten will. Wollte sie vor Covid-19 auch noch nie. Die Gattung der Tester-Anzeigen, allerdings ist eine gänzlich eigene. Am digitalen Veröffentlichen meiner journalistischen Texte, aber natürlich auch an meiner sozialen “Bubble” und an meinem Klickverhalten ist es für vermutlich jeden Menschen nach einem VHS-Wochendendkurs “IT” ersichtlich, dass ich Journalistin bin und viel über Bars, Schnaps und Menschen in der Nachtsszene schreibe. Sprich, Themen, über die sich aus aktuellem Anlass nicht mehr viel schreiben lässt, neben ein paar Regularien zu Lieferservices. Abgesehen davon reagieren Redakteure so gut wie nicht mehr, da die andere Sorgen haben. Kinder, Server, Eltern, alles.

Wie vermutlich jeder Mensch denkt sich also die Marketingbranche ein Schnippchen aus, wie mit dieser Situation umgehen: “Schreiben werden sie können, die Journalisten, Geld brauchen sie auch. Vielleicht kommen die irgendwann doch noch mal von ihrem hohen Ross runter und hören auf, Influencer zu belächeln. Jetzt teste die Bio-Cranberry-Mandel-Blutwurz-Nachrosenölsalbe halt, mein Gott.” Vertraglich geregelt ist natürlich nichts, die Daten aber hergegeben und selbstredend erhöhen sich die Chancen auf eine super-erfolgreiche Karriere als TesterIn, wenn man teilt, verlinkt, das Gesicht ins Bild hält, das Übliche eben.

Jetzt mit drei Nudelrezepten!

Und jaha, ich würde lügen zu behaupten, ich hätte nicht – kurz! – überlegt, ob ich nicht eine hervorragende Testerin einer renommierten Jeans-Marke hergeben würde. Statt aber ein überfülltes Spam-Fach zu leeren und Anrufe aus Gewinnspiel-Medienverlagen wegzuklicken, sitze ich lieber in Hoodie und Unterwäsche im Home Office. Denn das kann ja nun wirklich keiner zusätzlich brauchen: selbst wenn sich alle meine bislang intakten Quarantäne-Jeans bis zu deren Ende aufgelöst haben werden. Wir wissen alle nicht, wie es weitergeht und neben dem notwendigen Anteil an Moralappell – wie beispielsweise der Unterstützung unserer “Local Dealer” – scheinen wir uns recht stark in der Verwurstung von Krisen-Potenzial zu ähneln: “Kauft mein Buch von vorletztem Jahr, übrigens auch mit drei Nudel-Rezepten!” (Food-Journalisten), über “Habe im Jahr 2007 Fotos gemacht, wisst ihr eigentlich noch, wie es draußen aussieht?” (Fotografen) bis zu “Wir machen ein Insta-Algorithmus-Spiel und ihr liked diesen Post!” (alle) ist alles dabei. Und das tut niemandem weh, Menschen kann man schließlich immerhin entfolgen.

Mit aber der existenziellen Angst all dieser Inhaber ihrer ehemaligen Berufe, die gerade wirklich wackeln, zu wirtschaften, ist schlichtweg ekelerregend. Es ist mir schlichtweg unbegreiflich, wie eine Person, die tagtäglich unerwünschte Anzeigen schaltet, in denen sie gerade arbeitslos gewordenen Menschen, die um Miete, Gegenwart generell und somit auch Zukunft bangen, ernstlich vorschlägt, sie mögen sich doch stattdessen im vermeintlich hyggeligen Wohlfühlparadis “verwöhnen”, einschmieren, schminken oder anziehen um aus einer ohnehin schon desaströsen Lage eine prostitutionelle Verzweiflungstat zu begehen. Die Krise trägt fürwahr so manche Geschmacklosigkeiten an die Oberfläche. Das Schalten von Anzeigen, um mit der Angst der Menschen zu wirtschaften jedoch, hat in meinen persönlichen Charts herzlich weit nach oben geschafft.

Über die Autorin

Juliane Eva Reichert ist freie Journalistin in Berlin und schreibt über Alltagskultur. Bars, Drinks und den Menschen dazwischen, vor allem. Auf ihren Reisen entlang der Tresen und Produktionsstätten für Schnaps sind unter anderem Texte für den Feinschmecker, Mixology, Die Welt, Die Zeit, taz, Falstaff, Drinks, F.A.Z. Woche, Die Süddeutsche Zeitung, Stuttgarter Zeitung sowie Rolling Stone entstanden. Zumindest war das so in den vergangenen acht Jahren.

Kommentare sind geschlossen.