Es ist ein kurzer Weg und doch ein enormer Sprung. Wer von Oberstdorf aus die Straße hinauf ins Kleinwalsertal nimmt, überquert kaum merklich eine Grenze. Österreich beginnt, aber Deutschland bleibt spürbar.
Eine geografische Kuriosität, die sich in der DNA des Tals eingeschrieben hat. Hier, wo die Alpen enger werden und der Himmel weiter, liegt ein Stück Österreich, das sich seine eigene Logik geschaffen hat: eine Insel ohne Meer.
Eine geografische Laune der Natur hat aus dieser Hochgebirgsregion eine Enklave gemacht, die seit Jahrhunderten zwischen den Welten existiert und gerade daraus ihren ganz eigenen Charakter entwickelt hat.

Ein Tal in der Schwebe
Schon im 13. Jahrhundert waren es die Walser aus dem Schweizer Wallis, die dieses Hochtal für sich entdeckten. Sie kamen über hohe Pässe, suchten Schutz, Lebensraum und fanden eine Heimat. Ihre Spuren sind bis heute sichtbar: in der Architektur, im Dialekt und vielleicht in der Gelassenheit der Menschen.
Doch Abgeschiedenheit prägte das Tal jahrhundertelang. Kein direkter Weg führte ins österreichische Vorarlberg, nur die Route über das deutsche Oberallgäu war praktikabel. Aus dieser erzwungenen Isolation entstand eine einzigartige Symbiose: staatsrechtlich Österreich, wirtschaftlich eng mit Deutschland verflochten. Man zahlt in Euro, ruft mit deutscher Vorwahl an und hat Postleitzahlen, die eigentlich auf der anderen Seite der Grenze zu Hause sind.
Die Orte reihen sich wie Perlen entlang der Straße: Riezlern begrüßt die Ankommenden, Hirschegg, das gemächliche Mittelberg, und in Baad endet schließlich alles, das Asphaltband, der Alltag, die Eile. Dort, wo nur noch Wanderwege weiterführen, beginnt das eigentliche Herz des Kleinwalsertals.

Gipfel, Genuss und große Ideen
Das Kleinwalsertal ist längst kein Geheimtipp für Wanderer oder Skifahrer mehr. In den vergangenen Jahren hat es sich immer mehr zu einer spannenden kulinarischen Destination in den Alpen entwickelt. 16 Hauben zählt der Gault & Millau Österreich 2025. Eine Zahl, die man sonst nur in den großen Städten findet. Die Kombination aus österreichischer Wirtshauskultur, der Nähe zu süddeutscher Tradition und einem tief verwurzelten Bewusstsein für regionale Qualität und Nachhaltigkeit hat eine Gastronomieszene entstehen lassen, die weit über die Erwartungen einer Bergregion hinausgeht.
Allen voran: die Kilian Stuba im AROSA Ifen Hotel. Sascha Kemmerer kocht dort zwar keine Regionalküche im engeren Sinne, seine Speisekarte liest sich vielmehr wie eine kulinarische Weltreise: bretonischer Ikejime-Thunfisch, norwegische Jakobsmuscheln, südafrikanischer Kaisergranat, galicischer Steinbutt, Entenmastleber aus dem Elsass. Doch zwischen all diesen internationalen Zutaten finden sich bewusst regionale Akzente: Filet vom Walser Milchkalb vom Hof Thomas Matt, Lachsforelle von der Familie Holzinger aus Gunskirchen, Lammrücken von der Landwirtschaft Markus Fischer und Käse aus dem Bregenzerwald.

Kemmerers Küche ist auf höchstem technischen Niveau: Präzise, reduziert auf das Wesentliche, mit einer Finesse, die keine Kompromisse kennt. Er versteht es, klassische französische Küche, zeitgenössisch zu interpretieren und dabei ausgewählte Produzenten aus dem Tal einzubinden, ohne sich auf sie zu beschränken.
Doch Kemmerer ist nicht der einzige herausragende Koch der Region. Häuser wie das Sonnenstüble im Hotel Birkenhöhe, die Walserstuba oder das Wirtshaus Hoheneck prägen die kulinarische Identität des Tals ebenso stark. Besonders Jeremias Riezler steht für ein Verständnis von Gastronomie, das über das Kochen hinausreicht, als Haltung, als Verantwortung.
Wer tiefer ins Dorfleben eintauchen möchte, findet in der Räucherkammer einen Ort, der exemplarisch für die bodenständige Seite des Tals steht. Direkt an der Breitachbrücke in Riezlern haben Anna und Christian Beck ihre Räucherkammer aufgemacht: ein Verkaufs- und Spezialitätengeschäft, das weit mehr ist als eine gewöhnliche Fleischtheke. Hier können sich Gäste ihr Stück Steak selbst aus der Auslage aussuchen und es sich dann nach Wunsch zubereiten lassen. Es ist diese Unmittelbarkeit, diese Transparenz vom Produkt bis zum Teller, die den Unterschied macht.

Christian Beck lebt eine Philosophie, die im Kleinwalsertal keine leere Phrase ist: Wertschätzung der Region und ihrer Produkte. Die Schlachttiere kauft er direkt bei Walser Bauern und Landwirten aus dem Allgäu, die Verarbeitung erfolgt auf höchstem Niveau. Neben dem umfangreichen Wurst- und Fleischsortiment liegt Christians Frau Anna ein besonderes Augenmerk auf die Käsetheke, rund 40 verschiedene Bergkäse aus dem Kleinwalsertal, dem Bregenzerwald und dem Allgäu.
Die Becks betreiben zudem das Restaurant Bex, wo die Philosophie vom Handwerk zur Kunst wird. Hier dreht sich alles um ehrliche Küche aus regionalen Zutaten, bei der man weiß, woher das Fleisch kommt und wer es verarbeitet hat.
Es ist diese Authentizität, die man im Kleinwalsertal spürt: ein tiefes Vertrauen in die Produkte und in die Menschen dahinter. Kein Marketing, kein Hype, sondern echte Qualität aus Überzeugung. Und genau das zeichnet die Region aus.
Was man allerdings vergeblich sucht, ist ein wirklich guter Bäcker. Während das Tal kulinarisch in vielen Bereichen Maßstäbe setzt, bleibt die Kunst des traditionellen Brotbackens eine Lücke, die man als Gast schmerzlich bemerkt. Ein Paradox in einer Region, die sonst so viel Wert auf handwerkliche Qualität legt.
Wo Grenzen verschwimmen
Wer durch das Kleinwalsertal wandert, erkennt, dass es zwischen zwei Welten lebt. Das Allgäu im Norden, Vorarlberg im Süden: zwei Kulturen, die sich hier die Hand reichen. Barocke Kirchen neben Walser Holzhäusern, bayerische Gemütlichkeit neben österreichischem Selbstverständnis.
Eine Philosophie auf dem Teller
Das Kleinwalsertal denkt Genuss ganzheitlich. Hotels wie das Chesa Valisa, das Oswalda Hus oder das Breitachhus zeigen, dass Nachhaltigkeit hier kein Trend, sondern gelebter Alltag ist. Von biologischer Küche über faire Arbeitsbedingungen bis hin zu regionalen Materialien. Alles folgt dem Prinzip: vom Feld auf den Teller, vom Ursprung zum Erlebnis.
„Nose to Tail“ und „Leaf to Root“ sind hier keine Schlagworte, sondern Selbstverständlichkeit. Die Nähe zwischen Erzeugern und Gastronomen macht das Tal zu einem außergewöhnlichen Beispiel dafür, wie moderne Kulinarik funktionieren kann, nämlich mit Achtsamkeit, Mut und Respekt.
Das große Ganze
Das Kleinwalsertal ist längst mehr als ein Wintersport- oder Wandergebiet. Es ist ein Ort für Menschen, die verstehen wollen, wie Natur, Kultur und Kulinarik zusammenspielen. Die das Besondere schätzen, ohne dass es ihnen lautstark verkauft werden muss. Die einen Teller von einem Haubenkoch genauso zu würdigen wissen wie eine einfache Brotzeit auf einer Almhütte.
Und es zeigt auch ganz gut, dass Grenzen nicht trennen müssen. Dass Identität mehr ist als Nationalität. Und dass die besten Geschichten nicht immer unbedingt dort entstehen, wo die Welt laut ist, sondern dort, wo sie leise wird.






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