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Literatur People 7. Juni 2015

Literarisches Sixpack mit Armen Avanessian

Manchmal, gerade wenn die Sonne dabei ist unterzugehen, wünsche ich mir oft eine Zeit herbei, die ich gar nicht selbst erlebt habe. Jene Zeit, in der Literatur, Lesen und Nachdenken, Feiern und Politik, Kunst und Alltag Teil des Lebenszusammenhangs waren. So etwa die Zeit der 1960er, 1970er, 1980er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Vor knapp 45 Jahren wurde in Berlin der Merve Verlag gegründet, der mich seit einigen Jahren (sowohl privat als auch akademisch) begleitet: Merve galt früher sozusagen (nach anfänglich marxistischen Ausflügen) als die publizistische Zentrale von Postmoderne und Dekonstruktion. Aber auch die damalige Kunstszene und die Neuen Wilden waren Teil des Merve Verlag Programms: so zum Beispiel Markus Oehlen und Kippenberger. Entstanden sind eine Reihe von Künstlerbüchern wie zum Beispiel Godard, Heiner Müller, Minus Delta t, Blixa Bargeld und Werke über ästhetische Theorie: Roland Barthes’ „Cy Twombly“, Böhringers „Begriffsfelder“ oder Hosokawas „Walkman-Effekt“. Und natürlich die Merve „Helden“ Foucault, Virilio, Baudrillard oder Deleuze.

Später ging es bei Merve dann um Systemtheorie: so zum Beispiel der Band von Niklas Luhmann „Archimedes und wir“. Merve, jene weißen, kleinen Büchlein mit einer Raute auf dem Umschlag ist für mich die Lust am Diskurs. Diskurs, den ich zunehmend immer mehr vermisse. Und scheinbar durch Konsum klammheimlich ersetzt wurde? Merve: rätselhaft und poetisch. Und schon lange Kult.

Merve Verlag Armen Avanessian
Merve Verlag – Armen Avanessian: Überschrift – Ethik des Wissens. Poetik der Existenz

Ich freue mich über eine neue Folge „Literarisches Sixpack“ mit Armen Avanessian. Er studierte in seiner Geburtsstadt Wien, dann in Paris (bei Jacques Rancière) Philosophie und Politikwissenschaft. Nach Abschluss seiner Dissertation mit dem Titel „Phänomenologie ironischen Geistes. Ethik, Poetik und Politik der Moderne“ arbeitete Avanessian einige Jahre als freier Journalist, Redakteur (Le Philosophoire, Paris) und im Verlagswesen in London. Seit 2007 arbeitet er hauptsächlich als Akademiker, und zwar am Peter Szondi – Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. 2011 war er Visiting Fellow am German Department der Columbia University und 2012 am German Department der Yale University. Seit 2013 ist Avanessian Gastprofessor bzw. -dozent an verschiedenen Kunstakademien (Nürnberg, Wien, Basel, Kopenhagen), und seit 2014 Chefredakteur beim MERVE Verlag Berlin. Momentan beendet er seine Arbeit an einem Buchmanuskript, „Irony and the Logic of Modernity“ und veröffentlichte vor kurzem Publikationen zum Akzelero-Feminismus sowie Finanzspekulation und Derivaten. Und hier kommt seine Auswahl:

1.) Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990

Spannende und gut bzw. amüsant geschriebene Geschichte der westdeutschen und Berliner Nachkriegsintelligentisa anhand der Gründung und Entwicklung des Merve-Verlags. Ich würde mir eine Fortsetzung wünschen, gerade weil die Theorie heute ein so spannendes Revival erlebt in Berlin.

2.) Michael Hagner – Zur Sache des Buches

Ein wichtiges Buch zum Thema ‚Buch’. Sowohl eine historische Studie voller interessanter Details aus der Kulturgeschichte als auch eine diskurspolitisch brisante Analyse der gegenwärtigen Veränderungen im Verlagswesen – mit allem was das an praktischen Konsequenzen für das Publizieren, Schreiben und letztlich Denken hat.

3.) Wladimir Velminski – Diagnose Krim

Habe in dem Buch immens viel gelernt: von dem Insiderwissen des Autors und seinen Berichten über die Gespräche mit mehreren russischen Exilkünstlern: über zeitgenössische Kunst in Russland, die Krim, und warum ‚der Westen’ solche Probleme hat Putin zu verstehen.

4.) Julia Voss – Hinter weissen Wänden

Spannender und erhellender Blick hinter die Kulissen in den schmutzigen Kunstbetrieb, allerdings von der Hoffnung getragen, dass Aufklärung und damit eine Verbesserung möglich wären. Aber was wenn die zeitgenössische Kunst, d.h. die Kunst die wir seit ein paar Jahrzehnten (nach den Avantgarden, nach der modern art) kennen, gar keine Zukunft mehr hat – außer vielleicht als immer beliebteres Mittel zur Geldwäsche der vielbeschworenen 1%?

5.) Karen Barad – Verschränkungen

Materialismus, Feminismus, Philosophie, zeitgenössische Physik etc. – wenn Theorie nur immer so spannend und zeitgemäß wäre wie in Barads Überlegungen zur queeren Performativität der Natur.

6.) Collapse8

Die aktuelle Nummer der besten, wildesten und (schon seit einer Dekade) stets zukunftsweisenden Zeitschrift Collapse. Diesmal satte 1008 Seiten lang mit allem was es über unseren gegenwärtigen Kasinokapitalismus zu wissen gibt. Von der Psychologie der slot machines, über Finanzontologie, Techniken und mathematisch-algorithmischen Kalkülen von Pokerspielern und warum es in Kasinos vielleicht weniger kasinohaft zugeht als in der realen Welt von Derivativen. So sieht relevante Philosophie des 21. Jahrhunderts aus!


Armen Avanessians „Überschrift, Ethik des Wissens – Poetik der Existenz“ ist eine Streitschrift gegen die real existierende Universität: „Was macht heute eigentlich die Studierenden aus? Und ein Studium aus ihnen? Alma Mater Academia: Nurmehr ein Blinder Fettfleck des Denkens, eine Seniorenresidenz der Kritik?  Was macht heute eigentlich die Kunstbetriebler aus? Und die Kunstbetriebshuberei aus ihnen? Contemporäry Kunstworld:  Nurmehr ein Watteweitwurfwettbewerb, eine rostige Junggesellenmaschine, die den Kapitalstrich auf- und abfährt? Und was macht heute eigentlich all das aus dem, der darüber schreibt? »Überschrift« betreibt eine sectio accelerata des systematischen Verschnitts aus Kunstbetrieb und universitärem Diskurs, aus ästhetischer Kritik und kritischer Ästhetik, kurzum: eine Obduktion der politischen Theorie und Ästhetik.  Darüberhinaus eine Autopsie des Schreibens über all dies und des Überschreibens darin: Weiter zu einer Politisierung des akademischen Denkens und seiner Settings, einer Politisierung künstlerischen Arbeitens und seiner Rahmen. Zu einer anderen Ethik des Wissens und einer anderen Poetik der Existenz.“ (Quelle Merve)

Ich hatte bereits vor wenigen Tagen auf Blog Bohème geschrieben, „(…) dass ich kein großer Fan von Rezensionen bin, da ich der Meinung bin, dass Literatur – ähnlich wie Kunst – eine Sache ist, die jeder anders erlebt und immer subjektiv ist.“ Daher möchte ich Euch vielmehr das aktuelle Buch von Armen Avanessian ans Herz legen. Beziehungsweise all jenen den Merve Verlag empfehlen, die ihn bisher noch nicht für sich entdeckt haben. Lasst uns endlich wieder mehr Lesen und Nachdenken!

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