Springe zum Inhalt →

Feuilleton Literatur 26. August 2015

Wolfgang Herrndorfs Literatur fehlt!

„Einer geht immer auf und ab. Das ist der Traurigste.“ Diagnose: Glioblastom, Hirntumor, bösartig, nicht zu heilen. Laut aktueller medizinischer Studien bedeutet das noch maximal eineinhalb Jahre zu leben. Genau jene Krankheit, die bei Wolfgang Herrndorf diagnostiziert wurde, während sich sein Roman „Tschick“ unangefochten auf den Bestsellerlisten hält. Und genau jene Diagnose, die Herrndorf mit Hilfe seines digitalen Tagebuchs „Arbeit und Struktur“ einige Monate später für die Öffentlichkeit in Textform brachte. Bereits nach wenigen Zeilen wird einem klar: Beim Sterben zuzusehen ist schrecklich. Doch gerade deswegen schafft der außergewöhnliche Text von Herrndorf das Bewusstsein des Wesentlichen, was ein Leben lebenswert macht. Während alles so egal wirkt, wird alles so wichtig.

Herrndorf schreibt über ein Leben, das Stagnation nicht mehr kennt. Relativ nüchtern beschreibt der Autor seinen nahenden Tod. Teilweise voll von Ironie und in vielen Teilen sehr abgeklärt. Nostalgische Momente und sentimentale Ausbrüche werden nur selten thematisiert und gerade das zeichnet „Arbeit und Struktur“ aus und macht es so eindringlich. Herrndorf fokussiert sich auf die Dinge, die Menschen, seine Arbeit und seine Umgebung. Und zieht das bis zum Ende durch. „Am liebsten das Grab in dem kleinen Friedhof im Grunewald, wo auch Nico liegt. Und, wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Mettalkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.“

© Rowohlt Verlag Berlin Wolfgang Herrndorf Gesamtausgabe 2015
© Rowohlt Verlag Berlin Wolfgang Herrndorf Gesamtausgabe 2015

Damals dachte ich, dass sei es nun gewesen. Also mit den Romanen von Herrndorf, insbesondere „Tschick“, die ich wie Millionen andere liebte. Doch in seinem neuen Roman „Bilder deiner großen Liebe“, der als Fragment nach dem Tod des Schriftstellers erschien, sind die Hauptfiguren des Buchs wieder da. Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, den alle nur „Tschick“ nennen. Zwei anarchische Sehnsuchtsfiguren, die das Vermächtnis des Autors sind.

Und wie sieht es in „Bilder deiner großen Liebe“ aus?

„Ein Mädchen steht im Hof einer Anstalt. Das Tor geht auf, das Mädchen huscht hinaus und beginnt seine Reise, durch Wälder, Felder, Dörfer und an der Autobahn entlang: „Die Sterne wandern, und ich wandre auch.“ Isa heißt sie, und Isa wird den Menschen begegnen – freundlichen wie rätselhaften, schlechten wie traurigen. Einem Binnenschiffer, der vielleicht ein Bankräuber ist, einem merkwürdigen Schriftsteller, einem toten Förster, einem Fernfahrer auf Abwegen. Und auf einer Müllhalde trifft sie zwei Vierzehnjährige, einer davon, der schüchterne Blonde, gefällt ihr.

An dem Roman über die verlorene, verrückte, hinreißende Isa hat Wolfgang Herrndorf bis zuletzt gearbeitet, er hat ihn selbst noch zur Veröffentlichung bestimmt. Eine romantische Wanderschaft durch Tage und Nächte; unvollendet und doch ein unvergessliches Leseerlebnis. „Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin. Pappelsamen schneien um mich herum, und der süße Duft der Lichtnelken strömt durch die Nächte. Ich sehe einen Wald, aus dem vier hohe Masten aufragen über die Baumwipfel. Am Waldrand steht eine kleine Hütte, die Teil eines Wanderwegs ist, wie drei eingekastelte Zeichen verraten. Ein schwarzer Gedankenstrich, eine gelbe Schlange, ein rotes Dreieck. Mein Name.“ (Quelle: Rowohlt)

Hernndorfs nachgelassenes Romanfragment „Bilder deiner großen Liebe“ ist ergreifend, wie fast alles was er in seinem viel zu kurzen Leben geschrieben hat. Ein Außenseiterroman, der in die Liga der Weltliteratur gehört. Seine Literatur fehlt.


STIMMEN ZUM BUCH

„Wolfgang Herrndorfs nachgelassener Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist ein ergreifendes Fragment. Er gehört in die Liga der weltberühmten Außenseiterromane.“ (Iris Radisch, Die Zeit)

„Und wie bei seinem Meisterwerk, dem Wüstenroman „Sand“, hat man hier bei der Lektüre der knapp 130 Seiten den Eindruck, dass dieses Buch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht, ja, dass es einzigartig ist – so kaputt, krank und daneben einerseits, gerade bezüglich der Dialoge. So voller Poesie, Schönheit, Traumverhangenheit, Trauer, Strahlkraft und auch Komik andererseits.“ (Gerrit Bartels, Tagesspiegel)

„Bilder deiner großen Liebe“ gehört schon jetzt in die Reihe jener Werke der Literatur, die den Begriff des Fragments umgewertet haben. Wie Franz Kafkas unvollendete Romane oder Georg Büchners „Woyzeck“ haben sie aus dem, was vormals der Name eines Makels war, einer defizitären Form, ein eigenes literarisches Genre begründet. (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung)

 

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.