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Feuilleton Musik 27. Juli 2017

Unterwegs auf dem Roskilde Festival: 8 Tage Jubel, Trubel, Heiterkeit

Wir waren neulich beim größten Musik- und Kulturfestival Nordeuropas, dem Roskilde Festival: 25 Kilometer südlich von Kopenhagen gelegen, außerhalb einer der ältesten Städte Dänemarks, der alten Vikinger Hochburg, Roskilde. Am letzten Samstag im Juni öffneten sich die Absperrgitter zum Camping und Warm-up Gelände. Am darauf folgenden Mittwoch, die Eingänge zum eigentlichen Festivalgelände und Samstagnacht, wurden sie wieder geschlossen, damit zigtausende Freiwillige mit dem Abbau und Aufräumen beginnen und sich der Rest mit Zügen (von der Festivaleigenen Station), Bussen, Autos und Fahrrädern (wir sind schließlich in Dänemark) nach Hause schleppen konnten.

Für diejenigen denen das Roskilde Festival nichts sagt, hier ein paar Daten, Zahlen und Fakten: Dieses Jahr ist das 47. Mal gewesen, das erste Mal war 1971. Seitdem ist es 100% Non-Profit, und der gesamte Überschuss geht an soziale und kulturelle Wohlfahrtsorganisationen (unter anderem Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen oder neulich auch an den Golden Pudel Club). An den acht Tagen sind 100.000 Gäste und mehr als 30.000 Volunteers auf dem Gelände versammelt. Das Festival ist damit in dieser Zeit die viertgrößte Stadt Dänemarks. Tickets wurden in 74 verschiedene Länder verkauft. Die 180 Acts kommen aus 32 verschiedenen Ländern und 3/4 davon sind zum ersten Mal dort – genauso wie Blog Bohème.

© Christian Hjorth

Ein Festival der besonderen Art

In einem Land vor der Zeit der Masseneventisierung und Durchkommerzialisierung von Musik, Konzerten und Festivals war das Roskilde eine weltweit bekannte Institution. Also bevor plötzlich jede Stadt, jedes Dorf, jedes verlassene Industriegelände und jede brach liegende Wiese sein Festival bekam. Darunter viele kleinere, mit viel Liebe zum Detail und Programm gestaltete Festivals, aber auch einige, mit viel Liebe zum Geld verdienen und mit den überwiegenden Themen Saufen und Mitgröl-Rock.

Die Atemwege sind endlich wieder frei von (Urin-)Staub, die Gehörgänge ebenso von lauter, leiser, schöner, experimenteller, schneller, langsamer Musik und sonstigen Klängen, die eine Zeltstadt dieser Größenordnung so produziert. Eine Menge bestehend aus enthemmt feiernden Abiturienten, hippen Studenten, lässigen Mittdreißigern, modernen Kleinfamilien und unerschütterlichen, grau melierten Festivalhaudegen. Alle Sinne sind betäubt – im positivsten aller Sinne. Vielleicht noch ein leichtes Konzertphantomgrundrauschen im Hinterkopf, doch trotzdem mit diesem Gefühl von Glückseligkeit, dass man etwas Anstrengendes überstanden hat. So fühlt sie sich an, die Rückkehr von diesem besonderen Festival.

© Peter Troest

Mehr als Musik

Vor dieser Rückkehr hat man im härtesten Fall sieben, acht Tage auf dem Dyreskueplads (sonst sind hier Viehauktionen) verbracht. Bestehend aus drei Warm-up Tagen, die Gelegenheit bieten, das riesige Gelände und abwechselnd auf zwei-drei Bühnen spielende Newcomer aus Dänemark und dem restlichen Skandinavien zu entdecken. Anschließend starten die vier Haupttage. Weiterhin auf dem Campinggelände sind: Ein Skate- und Sportpark mit Wettkämpfen und Hip-Hop-DJs, ein „Dorfkern“, wo verschiedene Institutionen eine Szene bespielen und eine kleine Bühne wo verschiedene Programmpunkte wie Talks, Workshops und Konzerte dargeboten werden, dass sich mit dem diesjährigen Thema des Festivals Cultural Equality beschäftigt. Highlights: Der Talk mit Opal Tometu, Co-Gründerin von Black Lives Matter und ihren dänischen Kolleginnen, der Auftritt der transgender Künstlerin Tami T, organisiert vom LGBTQ-Filmfestival MIX Copenhagen und der Tanzworkshop Dancing in (Safe) Space der Gruppe HØNster, bei dem etwa 100 Festivalgäste zur Festivalunzeit 13 Uhr im Kreis standen und von Animateuren vorgeführte Tanzchoreografien zu Housebeats nachmachten. Dinge, die man sonst auf Festivals weder sieht, hört, geschweige denn selber ausführt, die aber helfen den eigenen Horizont zu erweitern, was auch eines der erklärten Ziele des Festivals und seines Kunst- und Rahmenprogramms ist. Daher auch der Slogan „More than music“.

Abseits des Musikprogramms bietet der Food Court einem alles was man kennt oder kennen lernen möchte, von Raw Food und Chia-Pudding über Tatar bis Heuschrecken-Burger, alles zu 90% bio, alles ziemlich lecker und erschwinglich. Nebenan liegt die Art Zone, in der man mit Bäumen chatten oder in einem großen Holzregenwurm echte Regenwürmer füttern und Talks mit (den) Künstlern erleben konnte. Im KlubRå gab es Gruppen-Meditation, geheime Konzerte und DJ-Gigs von unter anderem DJ Windows 98 aka Win Butler. Und bestimmt noch einiges mehr, aber um alles zu entdecken oder zu erleben, wenn man auch noch entspannt mit ein paar Öko-Bier oder Bio-Rosé abhängen will, scheint unmöglich.

© Jonas Laurien

Die Booker des Roskilde schaffen es jedes Jahr wieder eine durchdachte Genrevielfalt zu präsentieren, bei dem sich Altes und Neues, Modernes und Klassisches, Bekanntes und Unbekanntes hervorragend abwechselt. Es ist in höchstem Maße divers, verliert aber den roten Faden nicht. Ob man pompöse Headliner Shows mag, sich für neue oder experimentierende Klänge interessiert, Raven, Chillen oder einfach nur Zuhören will, jeder findet etwas oder alles. Die Anzahl weiblicher Acts, ist seit einigen Jahren und bei vielen Festivals (auch beim Roskilde) ein großes und wichtiges Diskussionsthema. Mit Solange, Lorde, Icona Pop, Hålsey, Princess Nokia, Jenny Hval, Warpaint und noch einigen mehr, wurde jedoch ein, heute immer noch nicht automatisch gegebenes, relativ gutes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Künstlern geschaffen.

Ein paar der musikalischen Highlights:

Highlights heraus zu filtern ist immer ein schwieriges Ding. Natürlich auch hier, wo Shows fast immer eine Stunde oder länger dauern und vor einem – besonders für dänische Verhältnisse – überaus enthusiastischem Publikum stattfinden. Die Leute feiern Rock und Hip-Hop Headliner ebenso wie Country und Electronica Newcomer, und das zu Recht. Wie immer gab es nicht so gute Konzerte, Standardware, gute und solche die man erstmal nicht vergisst.

Co-Headliner Solange lieferte eines der fantastischsten Konzerte ab. So spielten sie sich durch einen Großteil des genauso fantastischen neuen Albums und natürlich „Losing You“. Es war ein emotionales Konzert, einerseits durch die bedeutungsvollen Texte, Solanges Stimme und bescheidene Persönlichkeit, andererseits durch den wohl rührendsten Moment des ganzen Festivals: Solange begab sich zur ersten Reihe um ein weinendes Mädchen zu umarmen, was nicht nur diesem noch mehr Tränen in die Augen trieb.

Nicolas Jaar zementierte seinen Ruf als einer der interessantesten elektronischen Künstler überhaupt. Bei seinem Auftritt nachts auf der Apollo Stage, spielte er sich und das Publikum in einen Rausch. Mit härteren Beats und schnellerem Tempo als gewohnt, mixte Jaar seine Musik passend zur Stimmung und zum Setting. Er sang und spielte Saxofon, baute ruhige Passagen ein, um darauf hin wieder ein Feuerwerk los wabern zu lassen.

Der einstmals Minimaltechno spielende Trentemøller ist inzwischen eine Rockband mit elektronischen Einflüssen. Er spielt mit seiner Band einen treibenden Mix aus Joy Division, The Cure und sich selbst. Seine alten Hits wie „Moan“ und „Miss You“ gehen in diesem neuen Sound bestens auf und es entsteht eine solche Dynamik zu der man nur noch tanzen bzw. sich in bester Ian Curtis Manier schütteln möchte.

Wer den Countryrocker Kevin Morby noch nicht kennt, dem sei er wärmstens empfohlen. Letztes Jahr war sein Album auf fast allen Bestenlisten zu finden. Sein Neues ist gerade erschienen und auf dem besten Weg dorthin. Ein unaufgeregtes Set, das aber alles bot. Country, Folk, schnelle Rocknummern, eine super tight spielende Band, der man die Freude an der Musik anmerkte.

Die Samplebastelmeister The Avalanches spielten auch eines ihrer seltenen Konzerte. Perfekt orchestrierten sie ihren Albumsound für die in Neonlicht und Nebel getauchte Bühne. Ließen die markanten Samples ihrer Tracks laufen, modulierten den Rest zu einem organischen Bandklang, sangen und rappten, spielten ein Guns of Brixton Cover. Kurz: Sie ließen das Publikum ausflippen.

The Avalanches © Steffen Jørgensen

Weitere Highlights in Kurzform

Der atemberaubende Auftritt inklusive Chor, Tänzern und Gästen, des Sampleduos Den Sorte Skole, die markanten und wütenden Auftritte der Rapperinnen Madame Ghandi (M.I.A.’s Drummer) bzw. Princess Nokia, die groovigen Housebeats von Acid Arab, Fatima Yamaha und Bicep, die schon nachmittags Clubfeeling verströmten sowie die auf wirklich allerhöchstem Niveau routinierte Show von Arcade Fire und The XX.

© Roskilde Festival

Solltet ihr also einen Sommer nicht wissen was zu tun, oder einen Städtetrip planen, seht das Roskilde Festival als solchen. Und nichts spricht dagegen, sich danach noch die Stadt Roskilde anzugucken. Und natürlich Kopenhagen.

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