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Feuilleton Film Literatur 22. Oktober 2015

Treffen mit einer Ikone – The Charlie Chaplin Archives

Sein Erscheinungsbild wurde so ikonisch, dass ihn heute jedes Kind auf der Welt kennen dürfte – und sei es nur als Verkleidung zu Fasching oder Halloween. Charlie Chaplin – die unverwechselbare Silhouette des „Tramps“ mit Melone, Stock, ausgebeulten Hosen und übergroßen Schuhen wurden seine Trademark. Ich selbst kam das erste Mal mit dem Stummfilmhelden und Begründer Hollywoods zu Schulzeiten in Berührung. Mein Musiklehrer war ein Riesenfan des Schauspielers sowie der musikalischen Untermalung seiner Filme. Nun gibt ein gigantisches Buch von TASCHEN einen tiefen Einblick in die Entstehung sämtlicher Chaplin-Filme. The Charlie Chaplin Archives von Herausgeber Paul Duncan dokumentiert in über 900 Bildern, darunter Standfotos, Notizen, Storyboards und Fotos von den Dreharbeiten sowie Interviews mit Chaplin und seinen engsten Mitarbeitern die Arbeitsweise des Genies – von der spontanen Improvisation der frühen Kurzfilme bis zur akribischen Feinarbeit an Szenen, Einstellungen und Gags in seinen Filmklassikern The Kid (Der Vagabund und das Kind, 1921), The Gold Rush (Goldrausch, 1925), The Circus (Der Zirkus, 1928), City Lights (Lichter der Großstadt, 1931) und der unsterblichen Hitler-Parodie The Great Dictator (Der große Diktator, 1940). Auch mein Lieblings-Chaplin Modern Times (Moderne Zeiten, 1936) ist dabei.

“A Dog’s Life” (1918) als Comic Strip. Copyright: (c) Roy Export Company Establishment
“A Dog’s Life” (1918) als Comic Strip. Copyright: (c) Roy Export Company Establishment

Chaplin „always on“?

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, was dieser Film in mir auslöste. Damals brannte sich vor allem die Anfangsszene des Films in mein Bewusstsein ein: Darin dreht sich ein Sekundenzeiger über eine riesige Uhr und eine Schafherde erscheint. Dort läuft ein schwarzes Schaf mitten unter lauter weißen Artgenossen mit. Der nächste Schnitt zeigt Industriearbeiter, die dicht gedrängt und scharenweise in die Arbeit strömen. Diese stellt sich als riesige Fabrik heraus, mit allerhand abstrus anmutenden Maschinen, gigantischen Zahnrädern und überdimensionalen Werkzeugen. In den nächsten Szenen wird Chaplin buchstäblich unter die Räder dieses Systems geraten. Und trotz allem Witz und überzogenen Slapstick-Einlagen: Das hatte auf mich einen ganz schön bedrohlichen Eindruck. Ok. Damals ging es Chaplin um die Kritik am Zeitalter der Industrialisierung, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die Konfrontation des Menschen mit Maschinen, die ihnen buchstäblich die Arbeit (ab)nehmen. Das ist ja heute gar kein Thema mehr. Oder doch? Was würde Chaplin zur sogenannten „Always-on-Gesellschaft“ sagen, in der wir uns zunehmend wiederfinden? Die meisten von uns hängen ständig beruflich oder privat am Smartphone, checken Mails oder teilen sich via Facebook, Twitter & Co. ihren virtuellen Mitmenschen mit. Würde sein Film heute etwa „Digital Times“ heißen und seine Arbeiter anstatt am Fließband im Büro vorm PC schwitzen – dem Burnout nahe? Wer wäre das schwarze Schaf? Derjenige, der als erstes den PC ausschaltet und das Smartphone aus dem Fenster wirft?

Adenoid Hynkel (Charlie Chaplin) spielt mit der Welt in "The Great Dictator” (1940). Copyright: (c) Roy Export Company Establishment.
Adenoid Hynkel (Charlie Chaplin) spielt mit der Welt in „The Great Dictator” (1940). Copyright: (c) Roy Export Company Establishment.

Komik und Kritik

Dem Freigeist und Kritiker Chaplin wäre diese Reaktion durchaus zuzutrauen. So beinhalten The Charlie Chaplin Archives neben filmographischen Informationen auch jede Menge Details zur Privatperson sowie seiner persönlichen Geisteshaltung. Denn Chaplin war nicht nur der erste internationale Filmstar und einer der reichsten Männer auf Erden mit einem Millionenvertrag, eigenem Studio und einem festen Mitarbeiterstab, sondern auch ein politischer Kopf, der wegen seiner liberalen und kritischen Gesinnung mehrmals ins Fadenkreuz des Establishments geriet. „Ich bin Anarchist. Ich hasse Regierungen und Regeln und Fesseln… kann Tiere in Käfigen nicht ausstehen… Menschen müssen frei sein.“ (Charlie Chaplin, 1958) So musste der Schauspieler, der sich einst als „Der große Diktator“ (übrigens sein erster Tonfilm) mit Hitler anlegte, später wiederholt vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe aussagen. Durch seine Kritik an der amerikanischen Gesellschaft als Marxist verdächtigt, versuchte das FBI wiederholt dem gebürtigen Briten die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen. Als er 1952 für eine Filmpremiere England besuchte, wurde ihm die Wiedereinreise untersagt. Er blieb daraufhin in Europa und starb 1977 im Alter von 88 Jahren in der Schweiz. Er war Vater von acht Kindern.

The Charlie Chaplin Archives von TASCHEN ist ein super schönes Buch über einen Mann, den die ganze Welt kennt, und das in Umfang und Detailgrad wohl einzigartig ist. Also unser uneingeschränkter Tipp für Fans, Cineasten und Bibliophile – vorausgesetzt man verfügt über ein ausreichend großes Bücherregal, da dieser Prachtband auch in seinen physischen Dimensionen (41,1 x 30 cm, 560 Seiten!!!) wahrlich gewaltig ist.

Die Archive enthalten:

  • Chaplins Leben und Werk in Text und Bild
  • 900 Bilder, darunter zahlreiche zuvor unveröffentlichte Standfotos, Fotos von den Dreharbeiten, Aktennotizen, Dokumente, Storyboards, Plakate und Entwürfe sowie Drehbücher und Bilder zu Filmprojekten, die nie realisiert wurden
  • Chaplins Lebensgeschichte in eigenen Worten, gestützt auf seine umfangreichen Aufzeichnungen, von denen viele noch nie zuvor zugänglich waren
  • ergänzende Interviews mit einigen von Chaplins engsten Mitarbeitern
  • Material aus über 150 Büchern mit Zeitungsausschnitten aus den Chaplin-Archiven, die von seiner Frühzeit im Variété bis zu seinem Tod reichen
  • Dokumente zu sämtlichen Kurzfilmen – von Making a Living (1914) bis The Pilgrim (Der Pilger/Gehetzte Unschuld, 1923) – ebenso wie sämtliche Spielfilme – von The Kid (Der Vagabund und das Kind, 1921) bis A Countess from Hong Kong (Die Gräfin von Hongkong, 1967)
  • Die erste Ausgabe von 10.000 Exemplaren enthält einen Filmstreifen mit 12 Einzelbildern aus Lichter der Großstadt (1931), der aus einem 35-mm-Film aus dem Chaplin-Archiv geschnitten wurde.

Englische Originalausgabe mit deutscher, französischer bzw. spanischer Übersetzung in einem Beiheft


 

The Charlie Chaplin Archives – TASCHEN

Paul Duncan (Hg.)
Hardcover, Halbleinen, mit Filmstreifen, 41,1 x 30 cm, 560 Seiten
ISBN 978-3-8365-3840-4
Ausgabe: Deutsch; Preis: 150 Euro

Documents from the Chaplin Archives Property and Copyright of Roy Export Company Establishment, scanned by Cineteca di Bologna.

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