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Feuilleton Literatur 23. Juli 2015

Literarisches Sixpack mit Mirna Funk

1.) Max Frisch „Biografie: Ein Spiel“

Ein Buch, das eine unserer wichtigsten Fragen thematisiert: Wenn ich etwas in meinem Leben rückgängig machen könnte oder eine andere Entscheidung treffen, würde ich es tun oder nicht? Ein fantastisches Buch.

2.) Nicole Krauss „Das große Haus“

Eine komplexe Geschichte. Klug und spannend erzählt. Sie spielt zwischen Deutschland, Chile und Israel. Ein Möbelstück verbindet die Protagonisten miteinander, ohne dass sie es wissen, ohne dass man es als Leser weiß. Wenn man etwas über Dramatik und Struktur eines Romans lernen will, liest man dieses Buch ganz genau.

3.) Roland Barthes „Fragmente einer Sprache der Liebe“

Wo kommt die Liebe her und was macht sie aus? Mein Exemplar dieses Buches habe ich mittlerweile 20 Jahre. Es ist zerfleddert, weil ich es immer wieder zur Hand genommen habe, um darin zu lesen und davon zu lernen.

4.) Maxim Biller „Der gebrauchte Jude“

Es gibt einen wahnsinnig guten Satz in diesem Buch. Ich habe es gerade nicht zur Hand, weil ich in Tel Aviv bin und nicht in meiner Wohnung in Berlin. Maxim fährt im Zug irgendwo durch Deutschland und dann sagt er so etwas wie „Draußen war Deutschland und drinnen war ich.“ Ein Satz, der das gesamte Buch trägt.

5.) Byung-Chul Han „Agonie des Eros“

Warum wir unbedingt die Andersartigkeit des Anderen anerkennen müssen. So würde ich dieses Buch, ja dieses Pamphlet, das sich mit den Auswirkungen des Positivitätsdiktats unserer Gesellschaft auseinandersetzt, beschreiben.

6.) Miranda July „Zehn Wahrheiten“

Ein wunderschöner Kurzgeschichtenband. Schnell, lebendig und phantasiereich. So wie man es von Miranda erwarten würde.


Und hier ein Auszug aus Mirnas aktuellen Roman „Winternähe“, der den Uwe Johnson Förderpreis vor wenigen Tagen erhalten hat.

„Shlomo, wie er schlief. Shlomo, wie er morgens nach dem Aufwachen verwirrt guckte. Shlomo, wie er seine Lesebrille aufsetzte und die Ha’aretz in die Hand nahm. Shlomo, wie er die Milch im Topf umrührte. Shlomo, wie er sich ein T-Shirt über den Kopf zog. Shlomos Haarkranz um seine Brustwarzen. Shlomo, wenn er sehr laut lachte. Shlomo, wie er Brot schnitt. Shlomos weicher Penis. Shlomos harter Penis. Shlomos zweiter Zeh, der um einiges länger war als der große Zeh. Shlomos kleine Ohren. Shlomos graue Barthaare. Shlomos kräftige Oberarme. Shlomos weiche braune Haut. Shlomo, wenn er sich aufregte. Shlomo, wie er Lolas Namen aussprach – Low-lah. Shlomo, wenn er kam – in Lolas Mund. Shlomo, wenn er die Tür hinter sich zuzog. Seit Odeds Geburtstag konnte Lola Shlomo nicht mehr einfach so ansehen. Sie musste an den Comic »Maus« von Art Spiegelman denken, für den er 1992 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, »My Father Bleeds History«. Auch aus Shlomo blutete Vergangenheit. Aus jedem Menschen blutet die eigene Vergangenheit und manchmal sogar die Weltvergangenheit. Jede Geste, jede Handlung, jeder Gesichtsausdruck war Teil dieser Vergangenheit. Shlomos Vergangenheit. Lola saugte penibel auf, was ihn auszumachen schien. Jede Pore seines Körpers erzählte die Geschichte fort.“

Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Unsere Herkunft, falsche Freunde, orthodoxe Rabbiner? Lola ist in Ost-Berlin geboren, ihr Vater macht rüber und geht in den australischen Dschungel. Sie wächst auf bei ihren jüdischen Großeltern und ist doch keine Jüdin im strengen Sinne. Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt, sie selber soll cool bleiben bei antisemitischen Sprüchen. Dagegen wehrt sie sich. Sie lebt in Berlin, sie reist nach Tel Aviv, wo im Sommer 2014 Krieg herrscht. Sie besucht ihren Großvater und ihren Geliebten, Shlomo, der vom Soldaten zum Linksradikalen wurde und seine wahre Geschichte vor ihr verbirgt. Lola verbringt Tage voller Angst und Glück, Traurigkeit und Euphorie. Dann wird sie weiterziehen müssen. Hartnäckig und eigenwillig, widersprüchlich und voller Enthusiasmus sucht Lola ihre Identität und ihr eigenes Leben. (Text: S. Fischer Verlage)


Mirna Funk: „Winternähe“, Euro 19,99, erschienen bei S. Fischer Verlage, Juli 2015.

 

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