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Feuilleton Literatur 25. April 2017

Literarisches Sixpack mit Arno Frank

Arno Frank hat endlich einen Roman „So, und jetzt kommst du“ geschrieben und erzählt die Geschichte eines Hochstaplers, der seine Familie in den Abgrund stürzt. Nach wenigen Seiten wird klar, dass es sich um die hinreißende Geschichte des Autors, seiner Familie und vor allem seines Vaters handelt. Ein Vater, der ein Hochstapler war und dessen Leben quer durch Europa auf der Flucht vor der Interpol und der Realität stattfand.

Tobias Rüther, Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin, schreibt über Arnos Roman: „(…) der Text, den Arno Frank geschrieben hat, zerreißt einem das Herz, weckt Mitleid und Furcht und alle möglichen widersprüchlichen Gefühle, man rast wie die Familie Frank Richtung Süden und zurück und wieder nach Süden durch die dreihundertzweiundfünfzig Seiten und hofft, dass die Familie nie gefasst wird. Oder dass sie doch endlich gefasst wird.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Wir haben Arno Frank für das „Literarische Sixpack“ nach seinen sechs Lieblingsbücher gefragt:

„Nicht als Entschuldigung, aber doch als Erklärung sei vorausgeschickt: Ich greife nur zu solchen Romanen, die ich auch lesen würde, wenn ich wüsste, dass ich nur noch ein Jahr zu leben habe. Mit dieser womöglich etwas überspannten Maxime landet man zwangsläufig bei einem universellen Kanon, den aber kein Mensch festgelegt hat. Weil alles zu allem führt, also jedes Buch sich aus älteren Quellen speist und seinerseits in andere Werke einfließt, wird mit der Zeit doch ein Geflecht sichtbar. Das sieht dann halt aus wie es aussieht.“ Arno Frank

Thomas Edward Lawrence: „Die sieben Säulen der Weisheit“

Ein Mann in weißen Frauenkleidern, röhrende Motorräder (und Kamele), explodierende Lokomotiven in der Wüste. Mit 12 oder 13 faszinierte mich „Lawrence von Arabien“ so sehr, das ich mir schenken ließ, was ich für „das Buch zum Film“ halten musste. Tatsächlich ist der autobiografische Kriegsbericht des englischen Archäologen und Spions ein Werk von eigenem Recht. Bin damals für Monate im Treibsand dieses neunhundertseitigen Abenteuers versunken, gegen dessen poetische Wucht und Tragik alles verblasste – von meiner bisherigen Karl-May-Lektüre bis zur Notwendigkeit der Hausaufgaben. Seitdem suche ich in jedem Buch ein vergleichbares Erlebnis. Führte zu Thukydides: „Der Peleponnesische Krieg“, Edward Gibbon: „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“, Ernst Jünger: „Strahlungen“, Otto von Bismarck: „Gedanken und Erinnerungen“.

Emile Michel Cioran: „Vom Nachteil, geboren zu sein“

In der Dunkelheit adoleszenter Trübsal sind allein die Titel seiner Bücher wahre Leuchttürme: „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“, „Lehre vom Zerfall“, „Der Absturz in die Zeit“ oder eben „Vom Nachteil, geboren zu sein“. Nicht nur der knappe Stil ist unübertroffen, auch die Schärfe der Gedanken ist es: „Überzeugungen hat nur, wer nichts vertieft hat“. Oder: „Da Freundschaft mit Wahrheit unvereinbar ist, ist einzig der stumme Dialog mit unseren Feinden fruchtbar“. Aphorismen wie Schläge gegen den Hinterkopf vom radikalsten alles Skektiker, der sein Leben im Abseits verbrachte und wusste: „Die Skepsis ist die Eleganz der Angst“. Führte zu Marc Aurel: „Selbstbetrachtungen“, Arthur Schopenhauer: „Parerga und Paralipolema“, Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches“. Gilles Deleuze/Felix Guattari: „Mille Plateaux“.

Oscar Wilde: „Märchen und Erzählungen“

Hier waren es die Zähne, schwarz vom Quecksilber, als Folge einer Behandlung gegen die Syphilis, die mich auf Oscar Wilde neugierig machte. Die Skandale, sein einschüchternd monumentales Grab auf dem Pére Lachaise. Und dann diese zarten kleinen Geschichten in der etwas altertümelnden Übersetzung von Charles Baudelaire, die, wie spiegelnde Tautropfen, doch alle die ganze Welt enthalten. Nicht Märchen, sondern Kunstmärchen in Anlehnung an Hans Christian Andersen und im Vorgriff auf eine Astrid Lindgren. Wem am Ende von „Der glückliche Prinz“ nicht die Tränen kommen, hat einfach keinen Sinn für, äh, Pathos. Führte zu Charles Baudelaire: „Die Blumen des Bösen“, Gebrüder Grimm: „Kinder- und Hausmärchen“, Ovid: „Metamorphosen“, Alexander Kluge: „Die Lücke, die der Teufel lässt“, Salman Rushdie: „Mitternachtskinder“.

Thomas Mann: „Der Zauberberg“

Stand immer auf meiner Liste, seufzend in Angriff genommen … und atemlos in einem einzigen Urlaub durchgelesen. Mich frappiert hier zweierlei. Erstens der manierierte, geschraubte Stil, für den ich eine unverzeihliche Schwäche habe. Zweitens, wie schon bei den  „Buddenbrooks“, der plötzliche Einbruch des Unaussprechlichen in die panoramische Schau von Familie oder Gesellschaft. Bei Hanno Buddenbrook ist es der Typhus, bei Hans Castorp der delirierte Schneetraum im Hochgebirge. Und das wuchtige, schwarze Finale. Führte zu Heimito von Doderer: „Strudlhofstiege“, Lew Tolstoi: „Krieg und Frieden“, Thomas Pynchon: „Die Enden der Parabel“, Herman Melville: „Moby-Dick, oder: Der Wal“

Laurence Sterne: „Leben und Ansichten des Tristram Shandy, Gentleman“

Das Komischste, was ich jemals gelesen habe (und ich habe seit 1994 jedes Wort in jeder einzelnen „Titanic“ gelesen, wo mir Sterne irgendwann in der „Humorkritik“ ans Herz gelegt worden sein muss). Der ganze Roman ist ein irrwitziges Hüpfen von Hölzchen auf Stöckchen, der assoziative Strom eines beschwipsten Bewusstseins. Der Held wird erst im dritten Band geboren und spielt weiter keine große Rolle, eher geht es um Nasen. Oder Festungswesen. Irgendwann bekennt der Autor: „Mein Werk schweift ab und kommt doch vorwärts – und zwar zur gleichen Zeit.“ So ist es, und so ist es wunderbar. Führte zu Flann O’Brien: „Auf Schwimmen-Zwei-Vögel“, James Joyce: „Ulysses“, Peter Sloterdijk: „Sphären“

Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Für Leser das, was für Schwimmer eine Ärmelkanaldurchquerung ist. Eine endlose Prüfung immer hart am Untergang (besonders in Band 6, „Die Flüchtige“, oh boy). Wer sie aber besteht, der steigt am anderen Ufer, womöglich am Strand von Balbec, nach ungefähr einem Jahr als anderer Mensch aus dem Wasser. Das Geheimnis der Lektüre liegt in mönchischer Beharrlichkeit (jeden Tag mindestens zehn Seiten!) und der grundsätzlichen Bereitschaft, sich auf Prousts mäandernden Stil einzustimmen. Der Lohn ist nicht von dieser Welt.  Führte zu bisher rein gar nichts, weil erst neulich gelesen.


Mehr über Arno Franks neuen autobiographischen Roman

„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“, Alex Rühle in der SZ

„Die Gespenster der Autoroute“, Tobias Rüther in der FAZ

„Eine Hochstapler-Familiengeschichte. Peng! Schock!

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